Integration nur noch per Lotterie

An den Oberschulen fehlen Plätze für behinderte Kinder. Über die Vergabe der begehrten Mangelware entscheidet das Los. Wer Pech hat, landet auf der Sonderschule. Das werden im kommenden Schuljahr mehr als die Hälfte der Betroffenen sein

von ANTJE LANG-LENDORFF

Klaus Böger ist nicht nur SPD-Schulsenator, sondern auch Chef einer neuen Berliner Glückslotterie. Über die Integration von behinderten Kindern in die siebten Klassen der Oberschulen entscheidet dieses Jahr das Los. 470 Grundschulabgänger beantragen, ihren Integrationsunterricht der ersten sechs Jahre in den Oberschulen fortführen zu können. Noch ist nicht sicher, wie viele Plätze das Schulamt vergeben wird. Klar aber ist: Es werden viel zu wenige sein. Der Landesbeauftragte für Behinderte, Martin Marquard, schätzt aufgrund seiner Erfahrungen der letzten Jahre, dass nur rund 200 behinderte Schüler in den 7. Klassen unterkommen werden. Und seit der Verordnung zur sonderpädagogischen Förderung vom letzten August gilt, dass das Amt die begehrten Stellen bei gleicher Qualifikation der Bewerber per Zufall verteilt.

Einer der Kandidaten ist der zwölfjährige Cenk aus Kreuzberg. Er hat eine Niete gezogen. Sechs Jahre besuchte er die Paul- Dohrmann-Grundschule am Görlitzer Park. Während die anderen Kinder nach dem Regellehrplan unterrichtet wurden, folgte der lern- und körperbehinderte Cenk einem Extraprogramm. Diese Anforderungen erfüllte er gut. „In Mathe hat er sogar aufholen können und zeitweise am normalen Unterricht teilgenommen“, erzählt die zuständige Integrationslehrerin Anne Krause (Name geändert). Jetzt soll er auf die Sonderschule.

Denn dort kostet er wesentlich weniger: Ein behindertes Kind in eine Regelklasse zu integrieren ist pro Jahr rund 10.000 Mark teurer, als wenn es in der Sonderschule untergebracht wird. Das hat die Schulverwaltung am Beispiel eines Erstklässlers durchgerechnet. Sowohl die Einzelintegration, bei der ein Extra-Lehrer das Kind für einige Stunden zusätzlich betreut, als auch die Klassenintegration, bei der cirka die Hälfte der Stunden zwei Lehrer unterrichten, kosten die Verwaltung rund 15.600 Mark.

Cenk ist mit einer motorischen Behinderung auf die Welt gekommen. Er konnte weder Arme noch Beine selbständig bewegen. Mit sechs Monaten wurde er operiert. Seitdem geht seine Mutter regelmäßig mit ihm zur Krankengymnastik. Inzwischen rennt und tobt er wie seine Mitschüler. Am liebsten spielt er Fußball. „Gleich nach dem ersten Probetraining hat mich die D-Mannschaft des FC Südring aufgenommen“, erzählt er stolz.

Die angeborene Behinderung und die Behandlung haben seine geistige Entwicklung beeinträchtigt. Trotzdem glaubt Anne Krause, dass er einen Hauptschulabschluss schaffen könnte. Wenn er gefordert würde. Denn Cenk sei manchmal faul und verstecke sich hinter seinem Behindertenstatus, sagt die Pädagogin. Sie befürchtet, dass er in der Sonderschule in seiner geistigen Entwicklung stehenbleibt oder sogar zurückfällt, wenn er von den anderen Kindern nicht mehr mitgezogen wird.

Vor allem hat sie wie Cenks Eltern Angst, dass der Wechsel für den kontaktfreudigen Jungen ein Schock wird. „Ich will nicht auf Sonderschule“, sagt der Junge mit hängendem Kopf. Er weiß zwar nicht genau, was ihn da erwartet. Doch das „Sonder“ gefällt ihm nicht. In der Klassengemeinschaft war er nie Außenseiter. Trotz des Extraunterrichts wusste er sich bei seinen Klassenkameraden durchzusetzen. „So lebhaft und charmant wie er ist, hat er da nie Probleme gehabt“, erzählt Anne Krause.

Cenks Mutter ist empört: „Der ganze Förderausschuss, die Schulärztin, Sonderpädagogen, die Schulleitung und die Lehrerin, alle haben empfohlen, mit der Integration weiterzumachen“, sagt sie. „Und jetzt das.“ Sie hofft, dass er im Bezirk Neukölln doch noch einen Integrationsplatz ergattert. Obwohl die Lage dort nicht besser aussieht als in Kreuzberg-Friedrichshain.

Cenk ist kein Einzelfall. Seit die rot-grüne Koalition vor über zehn Jahren die Behindertenintegration in den Berliner Schulen einführte, wurden an den Grundschulen 4.530, an den Oberschulen jedoch nur rund 1.100 Plätze geschaffen. Immer mehr Integrationskinder beenden die sechste Klasse – und müssen auf die Sonderschule. „Von den jährlich rund 600 Grundschulabgängern konnten nur rund ein Drittel die Integration in der Oberschule fortführen“, schätzt der Behindertenbeauftragte Marquard.

Auch Schulsenator Böger gesteht den Mangel an Plätzen inzwischen ein. Sechzig neue Lehrerstellen für Behindertenintegration an Oberschulen wolle er bei den Haushaltsverhandlungen fordern, gab er letzte Woche bekannt. Ob er tatsächlich eine Aufstockung der Mittel erreichen kann, ist bei der derzeitigen Lage des Landeshaushaltes allerdings mehr als fraglich.

Bisher erregte der Mangel an Plätzen in der Öffentlichkeit wenig Aufsehen. „Auf dem Landesschulamt weiß man ja, dass es zu wenig Stellen gibt. Vielen Eltern wird dann von vornherein abgeraten, das Kind auf die Oberschule zu schicken“, vermutet Marquard. Viele Eltern würden resignieren. So erklärt er sich, dass jedes Jahr wesentlich weniger Anträge auf Integration in der Oberschule vorliegen, als es Grundschulabgänger gibt. Und dass das Stellendefizit nicht groß auffällt.

Natürlich gibt es auch Kinder, für die eine Integration in die Oberschule nicht sinnvoll ist. „Wenn ein Schüler unter dem Vergleich mit seinen Klassenkameraden leidet, kann es wie eine Erlösung sein, auf die Sonderschule zu wechseln und dort gut abzuschneiden“, sagt der Leiter der Paul-Dohrmann-Schule, Jörg Ballerstein. Gerade weil beim Thema Integration jeder Fall einzeln betrachtet werden muss, kritisiert er das Verfahren des Schulamtes. Und fragt sich: „Was ist das für ein System, wenn über die Werdegänge der Kinder per Los entschieden wird?“