: Wir königsblauen Warmduscher
Weil Schiedsrichter Dr. Markus Merk unter einer Lähmung seines Arms litt, die verhinderte, dass er das Spiel in Hamburg nach neunzig Minuten abpfiff, wurde Bayern Deutscher Meister. Ein Bericht über eine tolle Schalkesaison
von DETLEF KUHLBRODT
Die Saison begann ruhig und gelassen im Autoradio auf einer Fahrt in den Odenwald, wo wir den Alternativverleger Werner Pieper besuchten, und Schalke gewann ganz entspannt. Im Nachhinein nimmt man es natürlich als böses Omen, dass der auf den ersten Blick so sympathische Werner Pieper sich später als Anhänger des Angestelltenvereins Borussia Dortmund geoutet hatte, doch wer hätte im letzten Jahr am Ende des Sommers voraussehen können, was später geschah und nun schon, eine Woche danach, Legende ist?
Außerdem hielt sich das Engagement, mit dem Werner Pieper seinen komischen Verein unterstützte, in Grenzen. Mein Engagement war damals auch nicht viel größer. Als Fan war ich eher Warmduscher.
Ich duschte allerdings sozusagen etwas kälter als die Freunde, mit denen ich jeden Samstag in einer Kreuzberger Fabriketage Tischtennis spielte und dazu die Bundesligareportagen im Radio hörte. Es ist natürlich super, wenn die Reporter in den Stadien sich am Ende des Spiels ständig ins Wort fallen, herumschreien und brüllen, doch im Grunde genommen nervt das auch. Jedenfalls, wenn einem das Schicksal der eigenen Mannschaft am Herzen liegt. Wenn man sich aufs Tischtennisspiel konzentriert, kriegt man vom Radio nichts mehr mit, wenn man sich aufs Radio konzentriert, gerät man in schwarze Serien. Man kann die Radioreportagen auch nicht so genießen, wenn man weiß, dass zur gleichen Zeit irgendwo in der Stadt die Schalker Spiele live im Fernsehen laufen. Das gibt es ja noch nicht so lange und ist eine tolle Erfindung.
Während Schalke immer besser wurde, entfernte ich mich langsam von meinen linksalternativen Tischtennisfreunden. Die sind natürlich auch für Schalke, aber eben nicht weniger für Frankfurt oder Pauli. Als Fan sollte man sich schon entscheiden, sonst macht das wenig Sinn. Irgendwann kam ich also nur noch, wenn Schalke kein Samstagnachmittagsspiel hatte. Premiere World hatte mein Leben verändert. Seitdem mir die koreanische Geografin Suh davon erzählt hatte, dass sie mit ihren Freunden in der ehemaligen Kreuzberger Punk- und Absturzkneipe Weiße Taube allwöchentlich die Schalker Spiele guckt, ging ich nicht mehr zum Tischtennis.
Irgendwie war alles so ähnlich wie auf St. Pauli. Wenn es auf der Kippe stand, wenn Berliner Bayern- oder Herthafans an Spieltagen, an denen unser Verein einen eher langweiligen Gegner hatte, sich durchzusetzen drohten, ging Suh schon um drei mit einer Pro-Schalke-Unterschriftensammlung in die Weiße Taube. Einmal wurden auch Passanten mit dem Versprechen auf ein Bier als Stimmvieh in die Kneipe gelockt, nur damit sie dann erklärten, auch Schalke sehen zu wollen.
Normalerweise tranken wir in jeder Halbzeit ein Bier und rauchten während des ganzen Spiels vier Zigaretten. Wenn’s nicht so gut lief, natürlich mehr. Wir waren Ostler, Westler, Frauen, Männer, Studenten, Handwerker, Freizeitligafußballer. Manche kamen im Fanoutfit, manche ganz normal oder nur mit einem alten Autogramm der Schalker Mannschaft von 73/74 in der Tasche. Der 1.-Mai-Aktivist trank immer zu viel, und die Kartenorganisation blieb oft an zwei Leuten hängen, was für den üblichen Konfliktstoff sorgte.
Aber glücklich waren wir alle, wenn der Ball dann hineinging, und umarmten einander, und darum geht es dann ja letztlich auch. Und um diese Momente des perfekten Gelingens, die jeder kennt, der mal Fußball gespielt hat, um diese Momente jenseits der Zeit, um das Hier und Jetzt der Schönheit und Klugheit und Schnelligkeit, das die Schalker uns selbst in eher mittelmäßigen Spielen schenkten. Bayern mag Meister geworden sein (was ich bezweifle); dass Fußball ein äußerst komplexes Kunstwerk sein kann, das ein jeder versteht, zeigten die Schalker und demonstrierten in ihrem Spiel, dass Glück möglich ist.
Nach dem Spiel in Stuttgart waren wir zwar ziemlich geplättet und dachten, auch wir hätten irgendwas falsch gemacht; zum Finale nach Gelsenkirchen fuhren wir aber trotzdem.
Die Schilder auf der Autobahn waren in unseren Vereinsfarben gehalten, und ich dachte daran, wie ich 1972 am Radio im Partykeller meiner Eltern zum Schalkefan geworden war. Da hatte die durch den Bundesligaskandal arg geschwächte Schalker Mannschaft ohne neun gesperrte Stammspieler einen grandiosen Abstiegskampf geführt. Ich nahm die Radioreportagen mit dem Tonband auf, rannte jeden Sonntagmorgen zum Bahnhof in Bad Segeberg, um mir Bild am Sonntag zu kaufen, weil es da eine so ausführliche Bundesligaberichterstattung gab, kaufte mir immer den kicker, schnitt alle Artikel über Schalke aus und klebte sie in ein Buch. Ein paar Jahre wolle ich so sein wie Erwin Kremers. Später, als ich mich eine Weile nicht so für Fußball interessierte, hatte ich Ulrich, unserem Fahrer, mal das Buch geliehen, das er dann verlor. Das ist zwanzig Jahre her und überschattet unsere Freundschaft bis heute ein bisschen.
Horst wurde durch den Bundesligaskandal initiiert. Die neun Stammspieler der Schalker, die mit einer Summe bestochen wurden, für die heutzutage kein Drittligaspieler mehr auflaufen würde, hatte er toll gefunden. Die hatten ihn an Baader-Meinhof erinnert. Gegen die waren ja auch alle gewesen.
Für Suh, unsere koreanische Freundin, die Sushi mitgebracht hatte, hatte Schalke auch kommunikative Funktionen. Als Schalkefan konnte sie mit Leuten mal über was anderes reden als über das Übliche Wie-lang-bleibst-du, Wann-gehst-du, Wie-gefällt’s-dir-in-Deutschland und Wie-ist-das-Wetter-in-Korea. Außerdem hatte sie als Kind mit ihrem Vater oft über Fußball geredet. Ihr Vater war in einer sternenklaren blauen Vollmondnacht gestorben. Das sind die Vereinsfarben.
Kurz vor dem Ruhrgebiet schlug Horst vor, das neue Schalkestadion „Auf Schalke“ doch lieber „Ernst-Kuzorra-seine-Frau-Stadion“ zu nennen. In den düsteren Zweitligajahren hatte Ernst Kuzorra oft lieber im „Blauen Zimmer“ des Parkstadions die „Biene Maja“ geguckt, als sich die traurigen Spiele seines Vereins anzuschauen.
Wir übernachteten bei dem Fußballdokumentarfilmer Kornel Miglus in Bochum. Der Ruhrgebietshimmel war unaufgeregt grau und angenehm. „Die Trinkhalle ist eine Mischung aus Kneipe und Spätkauf und steht für das Gute im Ruhrgebiet“, dachte ich, als ich nicht schlafen konnte, und: „Schalke repräsentiert die Sehnsüchte der Majorität der Außenseiter.“
Und dann erinnerte ich mich an das Hallenfußballturnier vor ein paar Jahren, als Olaf Thon fast neben mir stand und noch kleiner war als im Fernsehen und so adrett, nett und jung wirkte. Seltsam, dass dieser Mann nun ein Star sein soll und Projektionsfläche der Sehnsüchte von Millionen.
Andererseits gibt es natürlich auch die wild entschlossen – Jiri Nemec – bis ultracool – Latal – aussehenden Schalker und Yves Eigenrauch, der vielleicht manchmal darunter leidet, dass neunzig Prozent seiner Zeit verplant ist, während man selber eher am Gegenteil rumknapst.
Dann war „die Mutter aller Tage erwacht“, der letzte Spieltag „näherte sich seiner Vollendung“ (WAZ); die Worte zweier Rentner vor dem Fenster weckten mich:
„Na, wer wird Meister?
„Bayern!“
„Das ist nicht gesagt!“
„Jeder Spieler der Bayern kriegt 250.000 für die Meisterschaft.“
„Wo soll das denn hinführen?“
„Die sind doch total bescheuert! Oder dieser Müller von Schalke hat fünfzig Millionen auf dem Konto.“
„Gibt’s ja gar nicht!“
„Die sind ja bescheuert!“
Wir rauchten nervös, obgleich: Was sollte geschehen? Die Meisterschaft hatten wir ja schon die Woche zuvor vergeigt. Im Prinzip. Eigentlich. Obgleich. Oje!
Im Zug nach Gelsenkirchen sagte ein Fan, dass sich die Fans von FC Magdeburg, BFC Dynamo Berlin, Union und Hertha „alle zusammengerottet“ hätten, um die Schalker beim Pokalendspiel zusammenzutreten. Das hätte er im Internet gelesen. Ein Zusammenschluss von Hertha und Union wäre so ähnlich wie eine Koalition zwischen PDS und CDU, geben wir zu bedenken. Auch „normale Menschen“ ohne Bier und Schal hoffen, dass die Bayern verlieren. Wer ist hier schon normal?
Der Zugführer sagt den wippenden Fans: „Bitte Ruhe bewahren, sonst fahr ich nicht weiter.“ In der Zeitung sagt Olli Kahn: „Ganz Deutschland wird gegen uns sein. Etwas Schöneres gibt es doch gar nicht.“ Das ist doch voll nazimäßig, findet Horst, und so ähnlich wie bei dem Horst-Wessel-Lied, dessen Melodie die Nazis ja bekanntlich von den Kommunisten geklaut hatten, denn es waren ja Schalker Fans, die zuerst dies schöne Lied nach der Melodie von „Sailing“ gesungen hätten: „Wir sind Schalker, wir sind Schalker, keiner mag uns – scheißegal“.
Vier Stunden vor dem Anpfiff singen Fans „Danke HSV“, und ich halt das für vernünftig. Wenn man mitsingt, knallt das Bier am besten. „Wer schießt Tore am laufenden Band – Ebbe Sand! / Wer isst die Pilze ohne Rand – Ebbe Sand!“ Und so weiter. Und so fort. Das Lied hat dreißig Strophen!
Vor dem Stadion stand der schwule Schalkefan, über den Jenni Zylka oft geschrieben hatte, und sagte: „Dass es die Suh wirklich gibt, hätte ich nie geglaubt.“ Wir brauchten noch dringend eine Karte und liefen nervös hin und her. Paul hatte vor dem Stadion geschlafen und erzählte, er hätte vorhin Yves Eigenrauch getroffen. Yves sei viel kleiner gewesen als erwartet und hätte gesagt, ja, wäret ihr früher gekommen, da hätte es noch Karten gegeben.
Später wurden zwei Haupttribünenkarten für tausend Mark angeboten. Dann klappte doch noch alles. Dann hatte das 1:0 für Haching in der dritten Minute keiner so recht mitgekriegt. Die Schalker spielten katastrophal. Nach dem 2:0 für die „schwulen Ommas“ aus Haching gingen die ersten Zuschauer. Kurz vor der Pause spielte Schalke wieder normal und schoss zwei Tore. Dann spielte Olaf Thon nach einem Dreivierteljahr endlich wieder, das 5:3 fiel in der 89. Minute, wir jubelten verhalten.
Und dann geschah das, wovon alle geträumt hatten: Das 1:0 der Hamburger in der 90. Minute!
Ganz langsam und zögernd, eine Ewigkeit von dreißig Sekunden vielleicht, verbreitete sich die Nachricht im Stadion, noch ungläubig begannen die Menschen zu jubeln und einander zu umarmen. Ungläubig verharrte man.
Momente nach dem Schlusspfiff brach auf dem Rasen unter den Spielern ein rasender Jubel aus, der wellenartig das ganze Stadion erfasste, Fans stürmten auf das Spielfeld. Alle umarmten einander. Der Ellenbogen eines begeisterten Zuschauers bohrte sich in den Leib von Möllemann, der in einem albernen blaugelben Supermankostüm gekommen war, und wir waren Deutscher Meister. Manche waren eine Minute, andere fünf Minuten Meister. Auf der Leinwand lief noch das Spiel in Hamburg, aber man schaute nach unten, zur Trainerbank, eine Traube befreit jubelnder Menschen.
Dann schaute ich zur Anzeigetafel, wo dieser unglaublich unglückliche, ungerechte indirekte Freistoß vorbereitet wurde, sah Kahn im Tor, dachte, super, das ist ja der Bayernstrafraum, stieß meine enthusiasmierten Nebenleute an, plötzlich bemerkte ich, oje – das ist ja der HSV-Strafraum ... ... ... ... ... ...
Momente gibt es, in denen sich die Zeit plötzlich verdichtet, Minuten einer unglaublichen Intensität, in denen die Worte einem wegbleiben.
Oder eigentlich sind sie noch da; im Kopf schwirren Worte und Sätze ganz automatisch noch herum, sie bedeuten aber nichts mehr; diese geordneten Worte und Sätze, die man automatisch als Schreibender denkt, die eine Distanz zu dem Geschehen aufmachen würden, in dem man drin ist.
Das ist alles völlig sinnlos. Man schaut seinen Nebenmann an und schaut in einen Abgrund des Nichtverstehens.
„Ist das wahr? – Das ist nicht wahr!!!! Bitte sag, dass das nicht wahr ist.“
„Das gibt’s nicht!“
„Das gibt’s nicht!“
„Das gibt’s nicht!“
Das ganze Stadion besteht nur noch aus diesen Worten der totalen Enttäuschung, des Ausgestoßenseins aus dem kollektiven Glück, der Vertreibung aus dem Paradies der unmittelbaren Kommunikation mit den anderen sechzigtausend Schalkern, der Ankunft in der Einsamkeit des Schmerzes, den man nicht in gleicher Weise teilen kann wie die Freude.
Der Himmel war in sich zusammengefallen. Wie durch Watte kommen Trostversuche, wenn Menschen, die man nicht kennt, einen umarmen, wenn man Arm in Arm aufs Spielfeld taumelt, wenn alles vorbei ist.
Wie durch Watte bewegt man sich die folgenden Stunden, wie durch Watte schüttet man Bier im Vereinsheim der Schalker in sich hinein. Ein dicker Schalkefan fängt an zu singen und alle singen mit: „Oh, wir sind die Muppetsshow / Oh, wir sind die Muppetsshow / Oh, wir sind die Muppetsshow.“
Die Bayern feierten dann den Gewinn von 250.000 Mark Siegprämie. Vor dem Bochumer Schauspielhaus lag eine sterbende Taube. Ulrich hatte am Montag eine komplizierte Betrugsverhandlung.
DETLEF KUHLBRODT, 39, hat in der C-Jugend seiner Heimatstadt Bad Segeberg einmal sieben Tore geschossen. In einem einzigen Spiel!
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