Neue Geschosse für die Polizei

Polizei führt „Deformationsgeschosse“ ein. Die verwandeln sich seltener in Querschläger, verletzen aber schwerer

BERLIN taz ■ „Ein hochinteressantes Geschoss“ nennt der Schusswaffenexperte der Gewerkschaft der Polizei, Wolfgang Dicke, die Polizeipatrone „Swiss P Luger SeCa“, „bei der ersten Vorstellung hat es großen Eindruck auf uns gemacht.“ Mit der neu entwickelten Munition versucht die Schweizerische Munitionsunternehmung AG in Thun mit der deutschen Polizei ins Geschäft zu kommen. Die sucht gegenwärtig nach einer neuen Polizeimunition mit „Mannstoppwirkung“, die den Getroffenen sofort angriffs- und fluchtunfähig machen soll.

Ebenso wie das „Action 4“-Geschoss von Dynamit Nobel befindet sich die „Luger SeCA“ derzeit im Endstadium der Zertifizierung. Das bedeutet, dass der Hersteller seine Entwicklung an Kriterien messen lassen muss, die in einer technischen Richtlinie festgelegt sind. Darin heißt es unter anderem: „Im Simulationsmaterial Gelatine wird (...) eine Eindringtiefe von 20 bis 30 cm gefordert.“ Durch diese Vorgabe sollen beim „Weichziel“ Mensch allzu schwere Verletzungen verhindert werden. Zudem darf sich das Geschoss nicht zerlegen. Diese Kriterien hat der österreichische Hersteller Hirtenberger nicht erfüllt.

Ganz anders die „Polizei-Einsatz-Patrone“ (P.E.P.) der Metallwerk Elisenhütte GmbH Nassau. Sie hat das Verfahren bereits im Herbst 2000 erfolgreich durchlaufen. Bayern und Baden-Württemberg haben die so genannte Deformationsmunition daraufhin schon im Oktober 2000 schrittweise eingeführt. Seit Mai 2001 ist auch Hessen dabei, in Nordrhein-Westfalen sind die ersten Bestellungen herausgegangen.

Wann die übrigen Länder und der Bund folgen, ist lediglich eine Kostenfrage, denn die Munition ist nicht billig. Rund 400.000 Mark muss das hessische Innenministerium für 500.000 Schuss zahlen.

Bislang verwendet die Polizei Geschosse, deren Ummantelung verhindert, dass sich die Patrone bei einem Körpertreffer verformt oder zerlegt. Die neuen Deformationsgeschosse hingegen verformen sich unmittelbar beim Aufprall auf den Körper und geben dabei den größten Teil ihrer Energie ab. Die Gefahr von Querschlägern wird dadurch erheblich gemindert.

Im menschlichen Körper allerdings richtet das Geschoss erheblich größere Verletzungen an als die bisherige Vollmantelmunition. Anders als bei dieser konzentriert sich die ganze Schussenenergie bei Deformationsgeschossen auf die getroffene Stelle. Je stärker es aufpilzt, desto größer ist die Energieabgabe und damit die Schwere der Verletzungen. Bei Kritikern sind die Geschosse deshalb stark umstritten. Sie warnen vor der Gefahr, dass zentrale Blutgefäße zerrissen werden und irreversiblen Schädigungen in Gewebe und Knochen entstehen, die unter Umständen dann sogar Amputationen notwendig machen.

Rechtlich ist die Entscheidung für die neue Munition allerdings durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) vom November 1999 gedeckt. Hintergrund ist ein tragischer Fall in München. Ein Jahr zuvor hatte dort eine Polizistin aus kurzer Distanz auf einen Mann geschossen, der sie mit einem Messer angegriffen hatte. Der Schuss durchschlug den Körper des Angreifers und tötete auch den hinter ihm stehenden Mann. Seither wurde nach neuer Polizeimunition gesucht.

Technisch ist das Problem nun gelöst, das ethische Problem jedoch bleibt. Oesten Baller, Professor für öffentliches Recht, der an der Berliner Fachhochschule den Polizeinachwuchs ausbildet, meint: „Im Prinzip darf Deformationsmunition (...) nur unter den Voraussetzungen gegen Menschen eingesetzt werden, in denen (...) ein finaler Rettungsschuss für zulässig gehalten wird. (...) Eine allgemeine Ausrüstung der Polizei mit einer Munition, die zu einer erheblich größeren (...) Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Risikos für den Betroffenen führt, ist mit dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schwerlich in Einklang zu bringen.“ Dabei verweist Baller auf eine IMK-Statistik für die Jahre 1988 bis 1997. Danach wurden 69 Prozent aller Polizeischüsse auf Personen abgegeben, die sich ihrer Festnahme durch Flucht entziehen wollten, oder um einen Ausbruch zu verhindern. OTTO DIEDERICHS