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Vom König des Nägelkauens

■ „Fremdeln“, ein „Schauspiel für alle ab 13 Jahre“, von Kristo Sagor hatte im Moks Theater Premiere. Es handelt vom jugendlichen Überleben im Auslaufmodell der traditionellen Familie und von einem depressiven Star

Die traditionelle Familie ist ein Auslaufmodell. Mann und Frau binden sich nicht mehr auf ewig, sondern tun sich jeweils für ein paar Jahre als „Lebensabschnittspartner“ zusammen. Dumm ist dabei nur, dass ihre Kinder so stockkonservativ sind und sich nach stabilen Verhältnissen mit den „richtigen“ Mamas und Papas sehnen. So werden in den so genannten „patchwork-families“ die oft mehrmals auseinandergerissenen Familienpartikel zwangsläufig mehr schlecht als recht zusammengefügt, und die Kinder merken am intensivsten und schmerzhaftesten, wie fadenscheinig diese „Flickwerk-Familien“ sind. Ein besseres Thema könnte sich ein „Kinder- und Jugendtheater“ wie „Moks“ kaum für eine Auftragsarbeit wünschen. Es ist maßgeschneidert für das Zielpublikum („alle ab 13 Jahren“), denn fast alle Jugendlichen und Erwachsenen können eigene Erfahrungen in einem der vier Protagonisten gespiegelt sehen.

Die pubertierenden Marek (Hermann Book) und Nele (Christine Ochsenhofer) leben als „Stiefgeschwister“ zusammen in einem Haushalt, weil Mareks Mutter Doris (Maureen Havlena) und Neles Vater Bartels (Alexander Hauer) Bett und Wohnung miteinander teilen. Mareks Schwester Svantje ist gerade von zu Hause abgehauen, deshalb sind Mutter Doris und Sohn in Panik. Sie: extrovertiert, hoch nervös und voller Selbstvorwürfe – er: introvertiert, depressiv, fast autistisch. Für die stabile, freche Nele sind Marek und Doris nervige „Zombies“. Bartels dagegen versucht, männlich vernünftig mit der Situation fertig zu werden und macht damit natürlich alles nur noch schlimmer.

Der 1976 geborene Kristo Sagor, dessen Stücke „Dreier ohne Simone“, „Durstige Vögel“ und „Unbeleckt“ hochgelobt wurden, hat „in einer intensiven Arbeitswoche“ (so der Pressetext) das Stück zusammen mit dem Regisseur Klaus Schumacher und den vier SchauspielerInnen entwickelt. Die Ausgangssituation wurde dramaturgisch zugespitzt (ein Autounfall, ein langes Koma und ein totgelogener Vater geben dem Stück seinen fast an die Instant-Tragödien der „daily soaps“ erinnernden Spannungsbogen), aber davon abgesehen werden sich viele im Publikum in den Streitgesprächen der Protagonisten wiederfinden. Das Kernproblem liegt darin, ob und wie diese vier wie zufällig zusammengeworfenen Menschen lernen, miteinander zu leben, einander zuzuhören und Umgangsformen zu entwickeln, die keinen verletzen.

Sehr angenehm fällt bei der Inszenierung auf, dass sie nicht „jüngelt“, sich also nicht bei dem jugendlichen Publikum mit pseudocoolem Slang oder hippen Regie-Ideen anbiedert. Der eingespielte Soundtrack aus Tom Tykwer-Filmen gibt dem ganzen von Anfang an eine modern-melancholische Grundstimmung.

Davon abgesehen wird mit jedem inszenatorischen Detail betont, dass hier Theater gespielt wird. Die einzelnen Zimmer der Wohnung werden als Grundriss auf dem Boden durch Holzbalken begrenzt, Betten, Stühle und Tisch stehen extrem reduziert im Raum, und auch die Figuren werden ähnlich zeichenhaft durch Kleidung, Frisur oder Körpersprache repräsentiert. Dadurch stört es nie, dass Hermann Book und Christine Ochsenhofer eigentlich viel zu alt sind, um den Marek und die Nele realistisch darzustellen. Und sie reden auch wie im Theater – in schönen, wohlformulierten, profunden Sätzen, die aber nicht altklug wirken, weil sie so offensichtlich Kernsätze sind. So hat auch jeder seinen Monolog, wobei sich Bartels, Doris und Nele interessanterweise jeweils auf Fernsehsendungen und Filme beziehen, die die Bilder für ihre inneren Zustände liefern. Hier entpuppt sich der depressive, realitätsscheue Marek als der Held des Stücks: Er erzählt uns von seinen Sehnsüchten in Tagträumen (zu denen jeweils eine Kerze angezündet und das phosphorizierende Licht eingeschaltet wird). Er ist mit solchen schönen Sätzen wie „Ich bin der König des Nägelkauens!“ der Poet der Ersatzfamilie.

Es wird dem jungen Publikum nicht zu leicht gemacht, man muss hier schon genau zuhören und aufpassen. Die Künstlichkeit der Räume und die komprimierte Sprache ist für viele junge Augen und Ohren sicher gewöhnungsbedürftig, aber der Aufwand lohnt sich. Dieses Stück könnte bei einigen eine starke und lange Liebe zum Theater wecken. Nur die Glieder werden gepiesackt. Die etwa 75 Minuten des Stücks sitzt man unbequem und eng, und ein junger Besucher brachte es bei der Premiere mit seiner Kritik genau auf den Punkt: „Das einzige, was nervte, waren die harten Stühle!“ Wilfried Hippen

Weitere Vorstellungen: 28. bis 30. Mai, 12., 13., 18., 21., 25. bis 27. Juni um 10.30 Uhr; 15., 17. und 23. Juni um 20 Uhr im Moks-Theater. Karten unter 0421/36 53 333.

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