: Integrationskurs für Deutsche!
EINWANDERUNG (3): Die Süssmuth-Kommission fordert 20.000 Zuwanderer im Jahr – dabei müssten es eine Million sein. Zeit, die Deutschen interkulturell zu schulen
Seit die Nation intensiv über Einwanderung und Integration debattiert, ist es etwas ganz Besonderes, in Berlin-Kreuzberg zu leben. Denn hier, so lautet die Erzählung, sei Deutschland nicht mehr zu erkennen. Tatsächlich gibt es kaum ein Kind, das nicht aus einer Migrantenfamilie stammt. Tatsächlich wird hier vieles geredet – und nur wenig in deutscher Sprache. Ist also Innenminister Otto Schily zuzustimmen, der vor gut zwei Jahren noch wusste: „Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.“?
Betrachten wir den zwölfjährigen Teenager – nennen wir ihn Tine –, der aus einem Dorf in Mainfranken stammt und für ein paar Tage zu Besuch weilt, fällt die Antwort eindeutig aus. Nach einem Gang durchs Viertel sitzt Tine heulend auf dem Sofa, klagt, dass da unten auf der Straße ja nur Ausländer herumliefen, und gibt zu verstehen, die Wohnung auf gar keinen Fall mehr verlassen zu wollen. Gekränkt von all dem Fremden, reist sie ab, erleichtert, in ihr Dorf zurückkehren zu können, in dem für sie alles im Lot ist.
Machen wir uns nicht lustig über Tine. Etwas von ihren Ängsten lebt in vielen Bürgern. Denn mit Einwanderung droht etwas verloren zu gehen – alte Gewissheiten und soziale Homogenität.
Doch trotz aller psychischen Abwehrhaltungen braucht Deutschland weiterhin Einwanderer. Sehr viele. Vorsichtige Schätzungen von Bevölkerungswissenschaftlern und Migrationsexperten gehen von einem Bedarf an jährlich 300.000 bis 400.000 Zuwanderern aus, sollen die Sozialsysteme in nächster Zukunft nicht kollabieren. Das ist aber längst noch nicht die ganze Wahrheit. Was Politiker der Bevölkerung gern verschweigen: Seit 1996 sind hier jährlich rund 600.000 Ausländer ab- und nur rund 650.000 zugewandert. Das ergibt eine Nettozuwanderung von jährlich 50.000. Zu wenig. Soll die Bevölkerungszahl stabil gehalten werden, hätte seit 1996 jährlich rund eine Million Menschen zuwandern müssen. Dass in dem Zuwanderungskonzept der Süssmuth-Kommission lediglich von künftig 10.000 bis 20.000 Zuwanderern die Rede ist, zeigt vor allem die Ängstlichkeit, mit der dieses Thema derzeit diskutiert wird.
Die deutsche Politik steckt in einem Dilemma. Jahrzehntelang versprach sie den Menschen, alles zu tun, um die Zahl der Ausländer zu reduzieren, damit die Welt so bleibt, wie sie sie sich wünschen – heimelig und vertraut. Nun muss sie die Bürger auf die neue Lage einstimmen. In dieser Situation macht es sich zum einen besser, von 10.000 anstatt von einer Million Zuwanderern im Jahr zu sprechen. Zugleich ist in den letzten Wochen an die Stelle der Abschottungsrhetorik die Forderung nach höheren Integrationsleistungen der Eingewanderten getreten. Diese sollen gewährleisten, dass der Fremde gar nicht mehr so fremd, sondern dem ein wenig ähnlicher wird, was man so für typisch deutsch hält.
Nun wird kaum jemand bestreiten, dass Politik und Gesellschaft den Einwanderern in der Vergangenheit nur recht bescheidene Integrationsangebote gemacht haben. Ein Mehr, wie die Süssmuth-Kommission nun vorschlägt, kann deshalb nur begrüßt werden. Aber ist Deutschland schon bereit für die große Wanderung, wenn, wie beabsichtigt, ein Einwanderungsgesetz verabschiedet wird und jeder Neuankömmling ein Recht auf einen Deutschkurs hat? Schön wär’s, weil so einfach und technokratisch. Aber die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lehren, dass die Abwehrhaltung der Deutschen gegenüber Einwanderern zu tief wurzelt, als dass sie zum Beispiel mit einer Reform des Staatsangehörigkeitsrechts bereits vermindert werden könnte.
So bescheinigte der französische Anthropologe Emmanuel Todd den Türken in Deutschland in seiner vergleichenden Studie „Das Schicksal der Immigranten. Deutschland, USA, Frankreich, Großbritannien“ (1998), dass sie zwischen 1960 und 1985 eine hohe Anpassungsleistung erbracht haben. Und trotzdem, so Todds Beobachtung, hat sich seit 1985 die Segregation verfestigt. Dabei hatte zu diesem Zeitpunkt die erste Generation von Türken, die in Deutschland aufgewachsen ist, das Erwachsenenalter erreicht. Sie spricht Deutsch, unterscheidet sich von der Aufnahmegesellschaft weniger als noch ihre Eltern. Trotz dieser Verminderung der objektiven Andersartigkeit haben Angst und Abwehrhaltung bei den Deutschen nicht ab-, sondern zugenommen.
Ein ähnlicher Prozess war in den ersten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts zu beobachten; damals betraf er die Juden. Je mehr diese sich assimilierten, desto stärker wurden Bewegungen und Ideologien, die die rassische, kulturelle und religiöse Differenz betonten. Begleitet wurde dieser Prozess sowohl in den Zwanziger- als auch in den Neunzigerjahren von einer Welle ethnisch begründeter Gewalt.
Ursache dieses aggressiven Differentialismus ist das in Deutschland vorherrschende Abstammungsprinzip. Das Blutsrecht (Jus sanguinis) bestimmte bis zur 1998 erfolgten Reform des Staatsbürgerschaft darüber, wer sich als Deutscher fühlen darf – nur der, der deutsche Vorfahren hat. Das tief im deutschen Selbstverständnis verwurzelte Jus sanguinis macht es so schwierig, die auf hiesigem Boden geborenen Türken, Araber oder Schwarzen als die eigenen Kinder anzuerkennen. Und wie sollen diese sich mit einem Deutschland identifizieren, das an seiner christlich-abendländischen Identität als verbindende Klammer festhält?
Je mehr ehemalige Einwanderer zu deutschen Staatsbürgern werden, desto mehr verliert das Abstammungsprinzip an bindender Kraft. Wenn sich Tine oder der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz nicht mehr zurechtfinden und deshalb auf die deutsche Leitkultur pochen, dann müssen nicht nur die Einwanderer, sondern vor allem die Deutschen selbst Ziel staatlicher Integrationsbemühungen sein, bevor Angst in Aggressionen umschlägt. Den Alt- und nicht den Neudeutschen fehlt es häufig an interkultureller Kompetenz, an Fähigkeiten zum Perspektivwechsel und dem Erkennen der Relativität der eigenen Position. Lernt unsere Tine aus Mainfranken nicht recht bald, ihrer selbst sicher und selbstbewusst, sich zwischen den unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Milieus und Kommunikationsformen zu bewegen, dann wird sie sich in Zukunft nicht nur in Kreuzberg verloren vorkommen.
Warum diese kulturelle Blockiertheit nur dann zum Thema wird, wenn man es an rechtsradikalen Jugendlichen in Ostdeutschland festmachen kann, verwundert. Schließlich ist dies kein Problem der neuen Bundesländer oder eines verunsicherten Landmädchens, sondern von Millionen von Bundesbürgern. Sie alle tun sich schwer mit dem, was die Kultusministerkonferenz (KMK) bereits vor fünf Jahren formulierte: „Wo Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauung zusammenleben, verändern und entwickeln sich Weltbilder, Wertsysteme, Orientierungs- und Deutungsmuster, mit denen Menschen ihre Lebenswelt gestalten.“
Für die Politik blieb diese banale Einsicht bislang folgenlos. Kein Wunder. Denn machte man sie sich zu Eigen, müsste dies vor allem in der Erziehungs- und Bildungspolitik einen radikalen Kurswechsel nach sich ziehen. Angesichts der Tatsache, dass bereits heute 30 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder aus Familien mit einem Migrationshintergrund stammen und dieser Anteil in den nächsten Jahren auf über fünfzig Prozent ansteigen wird, ist dies fürwahr keine revolutionäre Forderung, sondern eine der schlichten Vernunft. Der gesamte Fächerkanon müsste in Zukunft interkulturell akzentuiert werden, fordern deshalb sowohl Vertreter der Lehrerschaft als auch Migrationsexperten. Was das heißt? In den Lesebüchern der Grundschulen müssten die Lebenswelten türkischer, bosnischer und deutscher Kinder gleichberechtigt Eingang finden. Statt konfessionellen Religionsunterricht gälte es, die Kinder über die Vielfältigkeit des religiösen Lebens in Deutschland zu informieren. Auch Mathematik und Kunst, Biologie und Erdkunde ließen sich durchaus mit einem interkulturellen Ansatz lehren.
Ohne eine breit verankerte interkulturelle Kompetenz, ohne wechselseitiges Wissen voneinander ist mit der Bevölkerung in Deutschland künftig kein Staat mehr zu machen. Die Schule in Deutschland braucht Erziehungskonzepte, die es Tine ermöglichen, mit der Konflikthaftigkeit einer Einwanderungsgesellschaft besser zurechtzukommen, als dies heute noch der Fall ist. EBERHARD SEIDEL
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