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Luftschwestern

Über die Gletscher und in die Wolken: Anna und Susanne Hubers „Stück mit Flügel“ im Theater am Halleschen Ufer

Die eine ist Pianistin, die andere als Tänzerin und Choreografin bekannt. Aus der Schweiz kommen sie beide, und Schwestern sind sie auch noch. In keiner anderen Choreografie bisher hat die Körperforscherin Anna Huber so heiter und fast selbstironisch mit den Ergebnissen ihrer Recherche nach unverbrauchten Bewegungen gespielt wie in dem „Stück mit Flügel“.

Der Künstler als Virtuose: Diese Figur gehört mehr ins 19. Jahrhundert denn in die Gegenwart. Trotzdem haben gerade Solisten im Tanz damit zu kämpfen, je eigenwilliger sie eine Handschrift erfinden. Anna Huber, die keinen Fuß je so aufsetzt und keinen Arm je so hebt, dass eine tänzerische Floskel zu erkennen wäre, war auf dem besten Weg, eine Spezialistin der Bewegungskunde zu werden, der wie in der Wissenschaft nicht mehr allzu viele Laien zu folgen vermögen.

Das „Stück mit Flügel“ reißt sie aus dieser Isolation heraus. Sie nimmt den Zwang, gewohnte Idiome des Tanzes zu vermeiden, nicht mehr ganz ernst. Der Körper übertreibt seine Fähigkeiten, sich aus der Einheit des Subjekts zu lösen in eine Vielheit von Gliedern, die miteinander kommunizieren wie eine Familie. Susanne Huber spielt Stücke von György Kurtág, Györgi Ligeti und Franz Liszt auf dem Flügel, die aus der Postmoderne rückwärts in die Romantik brausen.

Auch diese Musik lacht über sich selbst und ihre Lust an Krach und Geschwindigkeit. Sie legt sich mit dem Wind an und veranstaltet Wettläufe quer über alle Tasten. Sie steigt auf zu luftigen Höhen und streift die Zonen des Erhabenen. Erschüttern aber will sie an diesem Abend nicht. Susanne Huber nutzt die großen Gesten der Musik eher wie etwas, aus dem man blitzschnell eine Welt bauen kann, ohne allzu viel Ballast mit sich zu schleppen.

In einem dicken Anorak verpackt, beginnt Anna Huber ihre Wanderung. Ihre Füße schiebt sie unter den weißen Tanzteppich und arbeitet an jedem Schritt, als müsste sie sich einen Berg hoch schaffen. Am Ende des Stücks verschwindet sie unter diesem Teppich, der sich über ihr bauscht und beult. Etwas von der Sehnsucht nach Gletschern und weiter Fernsicht streift mich da. Doch solch illustrative Assoziationen erlaubt die Choreografie selten. Einmal legt sich Anna bäuchlings, stützt den Kopf in die Hände und schaut gedankenverloren. Ihre Beine treiben derweil hinter ihrem Rücken Eigenes, kreuzen, knoten und schlängeln sich, wollen Meerjungfrau sein und Fisch. Und aus ihren Armen baut sie Rahmen, durch die sie wie durch ein Fenster herausschaut.

Irgendwann bricht über ihr und der Musik an der Bühnendecke ein elektronisches Chaos aus, als würde der Himmel herabstürzen. Sie springt und faltet sich in der Luft zusammen wie emporgeschleudert. Es geht in den Dissonanzen und Harmonien dieser Körpersprache fast nie um eine Expressivität, die das Empfinden einer Person ausleuchten wollte. Anna Hubers Kunstfiguren beschreiben vielmehr Zustände von Wahrnehmung, ordnen Muster der Orientierung, schichten Zeitebenen. Dieses Konzept lässt ihren Tanz oft spröde und kantig erscheinen. Im Zusammenspiel mit ihrer Pianistin aber erreicht sie auf diesen abstrakten Ebenen eine poetische Prägnanz.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Theater am Halleschen Ufer, 30. Mai bis 3. Juni, täglich 20 Uhr

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