: Von Pillen und Prinzessinnen
Wie man als Mädchen die sexuelle Befreiung für sich zu nutzen versuchte – und dabei einiges über Sex und Lügen lernen konnte
Keine unerwünschten Schwangerschaften, keine schlaflosen Nächte mehr für die Eltern, kein verpfuschtes Leben der Tochter! Wie eine Wunderwaffe präsentierte der Frauenarzt meiner Mutter und mir die Pille „Ovanon“. Ich war 16.
Innerhalb von Wochen bekam ich einen riesigen Busen, der nicht zu meiner Figur passte. An meinen Beinen platzten feine Adern auf. Bei diesen Nebenwirkungen war klar: Jetzt muss auch was passieren. Sonst hätte sich das Ganze nicht gelohnt. Damals, in der Szene der Sponti-Linken in einer Großstadt in den 70er-Jahren, war Sexualität zum Protestmittel geworden gegen die vermeintliche Spießigkeit der Eltern. Ich verbrachte meine Wochenenden in „undogmatischen Wohngemeinschaften“. Dort tummelten sich mehrere „pillenbefreite“ Mädchen und noch mehr Jungs. Die Jungs hatten in ihren Zimmern breite Schaumstoffmatratzen mit braunen Samtüberzügen auf den Boden gelegt. Von riesigen Tonbandgeräten dröhnte Pink Floyd. Eigenartigerweise fühlte ich mich damals nie als Sexualobjekt. Denn ich baute vor.
Der Trick bestand darin, immer nur mit Jungs ins Bett zu gehen, die sich wenigstens auch ein bisschen in mich verknallt hatten oder – so bildete ich mir ein – kurz davor standen. Aber auch so wurden die Dinge oft nicht einfacher. Arnim zum Beispiel bescherte mir ein nur moderates erotisches Vergnügen. Dann aber zog er jenes Werk aus dem Regal, in dem sich eine eher unbekannte Autorin zum weiblichen Orgasmus äußerte.
Frauen können nämlich, so stand darin, mehrere Orgasmen hintereinander bekommen und das auch noch vaginal. Vaginal! Mehrere! Vielleicht war ich doch verklemmt? Und meine Freundinnen ebenso?! Kein Wunder, dass ich irgendwann mehr Halt suchte. Ich begann eine feste Beziehung – mit einer Verabredung: „Keine Eifersucht wegen Sex mit anderen Partnern“. Auch das erforderte wieder ein paar kleine Lügen.
Unbedingt nötig war das dezente Heruntermachen der Nebenliebschaften, um die köchelnde Eifersucht verdampfen zu lassen. Als mein Freund von seiner New-York-Reise zurückkehrte, wo er bei einer gewissen Nadja übernachtet hatte, fragte ich ihn gewohnt lässig: „Und, wie war’s denn so?“ Er sagte, was ich hören wollte: „Naja, ist nur eine alte Freundin, ziemlich einsam zur Zeit. Deine Figur hat sie sowieso nicht!“ Auch ich legte mir meine Sprüche zurecht. „Ganz nett, aber ein bisschen langweilig“ – das reichte als Kommentar zu meinen Nebenaffären aus, um meinem Freund klar zu machen: „Du bleibst der Tollste!“
Fünf Jahre später hatte ich die Pille längst abgesetzt und einen anderen Freund. Der zertrümmerte die Fensterscheibe, als er von einem One-Night-Stand erfuhr. Ich besprühte seinen weißen Daimler mit schwarzer Farbe, als er fremdging. Ich war in einem anderen Lebensabschnitt angekommen.
ANNA BLUMENTHAL
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen