: Bereit zu großen Dingen
Der 18-jährige Tennisprofi Andy Roddick eifert seinem Kindheitsidol Michael Chang nach und gewinnt, von Krämpfen geplagt, ein Fünfsatzmatch bei den French Open – gegen Michael Chang
aus Paris DORIS HENKEL
Mit aufgerissenem Mund sah er zu, wie der letzte Ball des anderen neben der Linie landete, und in seinem Gesicht spiegelte sich die ganze Welt des Gefühls. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen, ob er schreien oder brüllen sollte, doch dann schlug er einfach die Hände vors Gesicht und war für den Bruchteil einer Sekunde allein mit sich und seinem Sieg. Geplagt von Krämpfen, aufgeregt bis zum Platzen, aber mit dem ganzen Feuer seiner 18 Jahre gewann Andy Roddick Mittwochabend in Paris in fünf Sätzen gegen Michael Chang (5:7, 6:3, 6:4, 6:7, 7:5). Es war der erste große Sieg bei einem Grand-Slam-Turnier für jenen jungen Mann, von dem die Leute daheim in den Staaten glauben, er werde dereinst Pete Sampras oder Andre Agassi folgen.
Aber es war mehr als das in einem Spiel, das verblüffend an jene legendäre Partie vor zwölf Jahren erinnerte, in der Michael Chang auf dem Court Central in Paris den großen Ivan Lendl schlug. Damals galt Chang, gerade 17 Jahre alt, als größtes US-Talent – nicht der ein halbes Jahr ältere Pete Sampras –, Lendl war die gefürchtete Nummer eins, doch der Tscheche verlor dieses unglaubliche Spiel. Auch Chang war am Ende von Krämpfen geplagt, aber seiner List und Tücke in schier auswegloser Situation war der große Lendl nicht gewachsen. Als der eine nicht mehr laufen und der andere nicht mehr denken konnte, nahm das Drama seinen Lauf.
Andy Roddick war damals sechs Jahre alt. Er hockte daheim vor dem Fernseher, sah Chang mit Stopps und Mondbällen siegen und war hinterher derart aufgeregt und inspiriert, dass er nach draußen rannte und drei Stunden lang Tennis spielte. Natürlich dachte er daran, als am Mittwoch die erste Krämpfe durch seine Muskeln tobten. „Changs Spiel gegen Lendl ist eine meiner ersten Erinnerungen an Tennis. Auf dem Platz habe ich gedacht: Yeah, das ist ziemlich ironisch“, erzählte Roddick, der bei jedem Krampf zusammen zuckte, als sei er von Messerstichen getroffen worden. Und die Wirkung war diesselbe wie vor zwölf Jahren. Anstatt den Ball mit Druck im Spiel zu halten, reagierte Chang zögerlich wie damals Lendl. In dieser provozierten Hilflosigkeit schloss sich der Kreis.
Chang gewann damals nicht nur das Achtelfinale gegen Lendl, sondern schließlich nach einem Fünfsatzsieg gegen Stefan Edberg zur allgemeinen Verblüffung auch den Titel. Bei der Siegerehrung kramte er aus einer Plastiktüte einen Zettel hervor und las die Dankesworte ab. Er ist bis heute der jüngste Sieger dieses und jedes anderen Grand-Slam-Turniers. Und was wird nun aus Andy Roddick? Zunächst mal wird er Changs fürsorglichen Rat befolgt haben („Sieh zu, dass du deinem Körper jetzt genug Mineralien gibst“), und dann wird er heute gegen den gut ein Jahr älteren Australier Lleyton Hewitt spielen. Hewitt ist ein zäher Bursche, und er ist einer der Besten im Kreis der jungen Wilden.
Wohin der Weg des jungen Andy darüber hinaus noch führen soll, nachdem er vor wenigen Wochen in den USA schon zwei ATP-Titel auf Sand gewonnen hat, darüber gibt es ziemlich genaue Vorstellungen. Sein Trainer und väterlicher Freund, der Franzose Tarik Benhabiles, sagt: „Andy hat keine Grenzen. Ich denke, in zwei Jahren ist er bereit zu großen Dingen.“ Noch mehr Gewicht hat die Einschätzung von Pete Sampras, der beim Turnier in Miami gegen Roddick verloren hat und überzeugt ist: „Andy hat eine unglaubliche Zukunft.“
Ein anderer aber weiß nur zu gut, wie es ist, als Teenager in die Rolle des nächsten Messias gedrängt zu werden. Andre Agassi war 17, als er seinen ersten Titel gewann, danach vergingen fünf Jahre, gefüllt mit Rückschlägen und enttäuschten Hoffnungen, ehe er 1992 in Wimbledon endlich bereit für den Triumph war. „Können Sie sich vorstellen“, fragt Agassi, „welches Gewicht auf seinen Schultern lastet, wenn er immer wieder hört, er allein sei die Zukunft?“
Ein wahres Wort des alten Meisters, aber noch macht Roddick den Eindruck, als könne er gar nicht genug kriegen von all den Aufregungen auf den Centre Courts der Welt. Einstweilen ist er so oder so ein Gewinn. Ein zwangloser, hungriger Junge mit Segelohren unter der Baseballkappe.
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