V. Familie und Freunde

„Ich habe eine gute Nachricht für dich“, sagt meine Frau. Ich horche auf: Hat der Arzt die Röntgenbilder verwechselt? „Die beiden Jungen kommen.“

Man sagt, von der Krankheit habe man auch Sekundärgewinne. Der Begriff meint, dass man nicht mehr einer schlechten Arbeit nachgehen oder miese Verhältnisse pflegen muss.

Ja, das stimmt, von niemand erfahre ich so viel Unterstützung wie von meiner Familie, die ich kaum wahrgenommen hatte, von Freunden, die ich fast vergessen hätte. Doch diese Hilfe hat auch einen bitteren Beigeschmack – denn Hilfe brauchte ich bisher kaum, ich gab eher welche.

Da ist zunächst meine Frau. Wie beginne ich, sie zu beschreiben? Edelstein des Universums, mein Abend- und Morgenstern zugleich: O ave maris stella, geht es mir durch den Sinn, wenn ich an sie denke.

Ich bin nicht katholisch, aber katholisch erzogen. Ich liebe die lateinischen Gebetsformeln noch heute: „Gegrüßet seist du, Stern des Meeres“. So beginnt ein Mariengebet, und ich denke an einen blutigen Sonnenuntergang über dem Meer und das Erscheinen der Venus. Wenn man fast ein Vierteljahrhundert verheiratet ist, hasst man sich entweder gründlich oder hat erfahren, dass Ehe nach zwanzig Jahren erst schön wird.

Zu Weihnachten habe ich meiner Frau in einem Geschäft auf der Connecticut Avenue einen Pajama gekauft. Auf roten Grund sind ungezählte Sterne aufgedruckt. Die Sterne – das ist das Besondere – laden sich mit Licht auf und leuchten in der Dunkelheit. Wenn die Nachttischlampe gelöscht wird, umarme ich den Sternenhimmel.

Der Pajama ist eigentlich für Männer bestimmt. Ich habe Größe XS – extraklein – bestellt, und er ist meiner Frau noch immer zu groß. Schön ist sie wie eine Statue. Ich kenne alle Vergleiche aus dem Hohelied Salomons. Sie stimmen alle, und sind doch noch zu schwach. Mit Sorge sehe ich die Falten an ihrem Kinn und ihrem Hals. Habe ich die verursacht? Hat sie Falten wegen der Sorge um mich bekommen? Oder gehören sie zum Älterwerden?

Den fünfundzwanzigsten Hochzeitstag wollte ich schon letztes Jahr feiern. Aber wir haben unterschiedliche Auffassungen darüber, wann das eheliche Zusammenleben begann. Was man hat, das hat man, dachte ich damals.

Ich weiß momentan nicht, ob ich den diesjährigen Hochzeitstag am 4. Juni, Pfingstmontag, noch erleben werde.

Meine Frau will ihn in Italien feiern. Schon wieder Italien. Ich hätte ihn ja lieber auf einer Fahrt den Grand Canyon hinab gefeiert.

Vermutlich werde ich ihn, ja wenn überhaupt, in Bayern feiern.

Wahrscheinlich konnte ich ohne meine Frau schon von der ersten Minute an nicht nicht leben, von dem Moment an, als ich sie kennen lernte. Nur wusste ich es nicht. Jetzt weiß ich es. Sie sorgt für mich, kocht für mich, macht Termine für mich, macht alles, wozu ich in der Niedergeschlagenheit, nicht in der Lage bin. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Bisher sorgte ich für meine Frau, jedenfalls dachte ich das.

Meine Frau kann sich Namen nicht gut merken. Aus Hildegard von Bingen, deren mittelalterliche Lieder wir in der National Cathedral an der Wisconsin Avenue hörten, wird bei ihr Hildegard Baehne, meine Großtante in Vermont. Aus Friendship Hights, dem Stadtteil an der Grenze zwischen Washington und Maryland, wird Friendly Highchips. Wer korrigiert sie, wenn ich tot bin? Gott, wenn es ihn gibt, weiß die richtigen Namen, wen also soll ich dermaleinst korrigieren?

„Ich gehe in Friendship Hights einkaufen“, sagte meine Frau irgendwann, nachdem wir schon ein paar Jahre in Washington wohnten. Friendly Highchips klang viel schöner. Zusammen hätten wir uns ergänzt, meint sie. „Du weißt die Namen, Zahlen, Fakten, ich weiß alles andere.“ Damit sagt sie, dass Namen, Zahlen, Fakten nicht so wichtig sind. Sie wird ohne mich auskommen. Aber ich bin es, der sie gerne Friendly Highchips sagen hörte.

Wir haben vor kurzem angefangen, auch beruflich zusammenzuarbeiten. Sie hat die Sozialarbeit in den USA an den Nagel gehängt und am Montgomery College das Fotografieren gelernt. Wir haben Geschichten gemeinsam eingereicht. Die Texte von mir, die Bilder von ihr. Mit Reisejournalismus wollten wir das Alter gemeinsam verbringen – solange man eben noch reisen kann.

Wenn sie jetzt Fotos von mir macht, denke ich, die werden beim Leichenschmaus nach der Beerdigung gezeigt. Ich höre schon, wie jemand sagt: Da sah er schon krank aus. Sie soll mich jetzt nicht fotografieren, denke ich. Aber ich will nicht ungerecht sein, die Krankheit hat mir mehr Nähe zu ihr gebracht – und dass ich ihr ausgeliefert bin.

Und meine beiden Söhne. Als ich noch mal in die Klinik soll, um wegen des Doppelblindversuchs auf Herz und Niere untersucht zu werden, kommen sie mit. In den Pausen zwischen den Untersuchungen kommen wir mit Dr. Innsbruck ins Gespräch. Wir sitzen ihm zu viert gegenüber.

Meine Söhne stehen der Chemotherapie eher skeptischer als ich gegenüber. Sie fragen Dr. Innsbruck: „Würden Sie das mit sich machen lassen?“ Der weicht aus. „Ihr Vater ist ja noch jung“, sagt er. Wie freundlich von ihm, denke ich. „Mein Vater ist über achtzig“, sagt der Arzt, „da würde ich natürlich zum Zuwarten raten.“

Die beiden Jungen unterbrechen ihn. Wie alt er ist, wollen sie wissen. Dr. Innsbruck zögert. „Etwa im Alter Ihres Vaters“, antwortet er, „Anfang fünfzig.“ Er will mir offenbar schmeicheln. Dr. Innsbruck, der in Rollkragenpullover und Jeans rumläuft und eigentlich nett aussieht, ist eher Ende vierzig, und ich bin Ende fünfzig.

„Sie sind also ungefähr so alt wie mein Vater“, sagt einer der Jungen. „Würden Sie eine Chemotherapie mit sich machen lassen?“ Dr. Innsbruck überlegt. Dann sagt er sehr bedächtig, als wäge er seine Worte einzeln ab: „Ich würde zwei Zyklen machen, und dann würde ich sehen, ob sie anschlägt. Wenn nicht, würde ich Urlaub mit meiner Familie auf Mauritius machen.“

Ich habe schon sehr lange keinen Urlaub mit der ganzen Familie mehr gemacht. Meine Frau war es, die vorschlug, einmal gemeinsam mit den Kindern Urlaub zu machen. Auf Hawaii würden die Jungen die Hütte am Strand genießen, in der wir mal allein gewohnt haben. Die Antwort von Dr. Innsbruck muntert mich gleichwohl auf.

Noch also gibt es Möglichkeiten und Varianten, denke ich. Ich kann wählen. Die Chemotherapie kann ich machen oder auch nicht, ich kann sie abbrechen oder es lassen. Die chemische Behandlung kann den Krebs zur Rückbildung zwingen oder auch nicht. Statt mittags die Krankenhauskost zu essen, beschließen wir, in ein gutes italienisches Restaurant zu gehen – eine Krankenschwester hat uns den Tipp gegeben.

Wir sind zu viert, ich, meine Frau und meine beiden Söhne. Man behandelt uns respektvoll, vielleicht weiß man in diesem Lokal, dass viele Menschen aus der nahen Klinik kommen. Wir sind eine fast unschlagbare Bande, der Krebs erscheint da wie eine kleine Gefahr.

Dass ich eine Metastase im Kleinhirn habe, trübt das Gefühl der Stärke kaum, als wir gemeinsam dem Chefarzt Dr. Paul gegenübersitzen. Er beantwortet die Frage der Jungen, ob er so eine Chemotherapie mit sich machen lassen würde, allerdings spontan. Ja, man soll sie machen, solange man sich gut fühlt, nicht erst, wenn man krank wird.

„Du hast eine Frau, mit der du dich verstehst, und zwei Söhne, die sich um dich kümmern, statt dass du dich um die Kinder kümmern musst“, sagt mein Bruder neidvoll. Er versteht sich mit seiner Frau nicht und hat zwei Töchter, die jünger sind als meine Söhne. Ich denke, dass er sich weniger um seine beiden Töchter kümmern müsste. Oft habe ich ihm in Briefen geraten, wie er mit seiner Frau ins Reine kommen sollte.

Ich frage mich auch, ob jemand ahnt, was es für einen Vater bedeutet, von seinen Söhnen und seiner Frau umsorgt zu werden. Bisher hatte ich den Ton in der Familie angegeben. Ich bin der Vater, und für die Söhne war ich der Größte, der Held. Für sie unverwundbar und unbesiegbar. Jetzt bin ich schwach. Ja, die Krankheit hat mir mehr Nähe zu meinen Söhnen gebracht, ich will nicht ungerecht sein. Aber um welchen Preis?

Wir wohnen die erste Zeit in Deutschland zunächst bei meiner Mutter. Als mein amerikanischer Vater vor vierzig Jahren in Deutschland starb, hat sie in Bayern ein Haus gebaut, statt nach Amerika zu gehen. Damals hoffte sie, mit ihren drei Kindern zusammenzuleben. Doch zwei waren schon aus dem Haus gegangen, das dritte ihrer Kinder sollte bald folgen.

„Ihr könnt doch hier wohnen“, sagt sie zu mir und meiner Frau. „Ich möchte nur mein Schlafzimmer im ersten Stock mit dem Blick auf die Alpen, und das Wohnzimmer, ebenfalls mit Blick auf die Alpen, behalten, und die Küche natürlich“, sagt meine Mutter beharrlich. Und essen will sie natürlich auch mit Blick auf die Alpen.

Also will sie das ganze Haus. „Vielleicht könnte man eine Wendeltreppe von meinem Schlafzimmer hinunter in den Garten und in die Nebenwohnung bauen“, sagt sie, oder das Haus in oben und unten teilen. „Du verstehst nicht“, sage ich zu meiner Mutter, „ich überlebe den Bau nicht. Ich bin tot, bevor die Wendeltreppe fertig ist.“

Dass ich meine Mutter mit 87 nicht auf einer eisernen Wendeltreppe rauf- und runtergehen sehe, behalte ich für mich. Meine Mutter klingt beleidigt, als nähme man ihr gegenüber ein unanständiges Wort in den Mund. Etwas reizt mich an ihr. „Sehr bald brauchen wir beide, du und ich, nur noch sehr wenig Platz“, sage ich, „etwa fünfzig Zentimeter mal zwei Meter – drei Meter unter der Erde.“ Schon wieder ist sie beleidigt. Sie hat vierzig Jahre in dem Haus nach Belieben gewaltet und geschaltet.

Sie ist die Herrin und lässt uns das spüren. Da können wir zwar umsonst wohnen, aber wie Kinder, und das zu einem Zeitpunkt, da meine Mutter selbst kindisch wird und wie ein Kind bald Pflege brauchen wird – etwas, worum ich mich nun nicht mehr kümmern werde. „Eine zweite Kindheit, ohne den Charme der ersten“, schreibt mein Cousin aus Florida sarkastisch. Im Alter von fast sechzig Jahren soll ich wieder zur Mutter zurück? „Wir müssen hier raus“, sagt meine Frau. Doch wo soll ich hin?

Als wir sie im März endlich verlassen, eine neue Herberge gefunden haben – immerhin leiht meine Mutter uns ihr Auto –, sehe ich sie vor dem Tor stehen und winken. „Ein Mann geht einem von der Seite“, schrieb sie meiner Schwester in einem Brief einmal, „ein Kind wird einem aus dem Herzen gerissen.“ Auch meiner Mutter gegenüber sollte ich nicht ungerecht sein.

Tatsächlich lässt meine Schwester in Kalifornien alles stehen und liegen und geht in die Bibliothek. Sie, der ich halb ärgerlich, halb großspurig beigebracht habe, wie sie das Internet nutzen kann, ausgerechnet sie schickt mir mehrere Webseiten der American Lung Cancer Association. Dort finde ich einige ermutigende Geschichten von NSCLC-Patienten, die ihren Arzt überlebt haben – die meisten Zahlen und Fakten über diese Krankheit sind für mich aber leider weniger ermutigend.

Meine Schwester schickt mir für mindestes zweihundert Dollar Bücherpakete aus Amerika. Ich solle lesen, was Carl Simonton, Michael Lerner (für diejenigen, die auf einfache Fragen komplizierte Antworten wollen, schrieb die Zeit) und Alastair Cunnigham über Krebs geschrieben haben. „Ein Arzt sagte mir, ich hätte nur noch sechs Monate zu leben. Ich schaute ihm geradewegs in die Augen und sagte: ‚Fahren Sie geradewegs zur Hölle!‘ “ So steht es bei Lawrence LeShan oder Alastair Cunningham oder Carl Simonton oder Norman Cousins.

Solche furchtlosen, gut gelaunten Reden kommen bei Amerikanern immer gut an. Ich weiß nicht, wo ich die Kraft hernehmen soll, so wie sie zu antworten und so auch noch zu denken. Wer stirbt, ist also selbst schuld, lernt man aus dieser Lektüre: Der hätte eben mehr kämpfen müssen. Aber das ist nicht die Schuld meiner Schwester. Ich will nicht ungerecht sein.

Mein Bruder und einer meiner Söhne finden heraus, dass Carl Simonton nach Deutschland zu Besuch kommt. Psychoonkologe nennt er sich. Ein Star in Amerika. Zwei Bücher hat er geschrieben, beide finden auch hierzulande viele Leser. Ich hätte sie auch auf Deutsch lesen können – eine verführerische nackte Frau ist auf den Umschlägen zu sehen.

Mein Bruder schlägt vor, dass wir zu Simontons Vortrag nach Stuttgart fahren. Ich bleibe Simonton gegenüber skeptisch.

Obskur finde ich ihn sogar, um das Mindeste zu sagen. Aber wie lange habe ich nichts mehr mit meinem Bruder zusammen gemacht? Ich willige ein. Nach Stuttgart sind es nur zwei Stunden von München aus. Mein Bruder besorgt das Hotel und bezahlt es auch. Ich habe Kleider an, die er mir besorgt hat: Mantel, Pullover, eine anständige Jacke. Ich war doch nur mit einer Tragetasche nach Deutschland gekommen.

Er ist es, mein Bruder, der uns fast drängt, auf seinem kleinen Bauernhof in Italien, wo er seit zwanzig Jahren zum Zeitvertreib Wein und Oliven anbaut, zu wohnen. Er wisse keine größere Freude, als wenn ich und meine Frau dort leben würden.

Mein Bruder ruft fast jeden Tag an, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Warum sorgt er sich so um mich? Er ist zwei Jahre jünger als ich. Als großer Bruder habe ich ihn immer schlecht behandelt. Als ich beim Klavierspielen als Dreizehnjähriger von Bach und Mozart auf Boogie-Woogie umstieg, setzte sich auch mein kleiner Bruder ans Klavier. Me and my brother went to town, dichtete er und hämmerte mit zwei Fingern einen Takt in den Basslagen.

Habe ich je hören wollen, was er sich dabei vorgestellt und gewünscht hat? Ich fürchte, ich habe ihn behandelt, wie große Brüder eben ihre kleinen Geschwister behandeln: bestenfalls links liegen lassen, schlimmstenfalls gequält. Jetzt nehme ich seine Hilfe dankbar an, ich, der große Bruder, der immer wusste, wo es langgeht, der für ihn immer alles richtig gemacht hat.

Meine Cousine aus Oklahoma schreibt mir, sie habe mich in die Gebetsliste ihres Bibelkreises aufgenommen – meine streng religiöse Cousine, die mich immer bekehren wollte, meine Cousine, die immer schnippisch war, weil ich für die Verhältnisse Oklahomas so europäisch daherkam – und natürlich weil ich eher für die Demokraten als die Republikaner war.

Auch Freunde in Washington haben meinen Namen zum Gebet beim Gottesdienst vorgeschlagen. Dort hat eine ganze Synagoge für mich gebetet. Das waren die gleichen Freunde, die meiner Frau beim Auflösen der Wohnung halfen. Felicia bezahlte für uns Rechnungen und verkaufte das Auto, während Marty meinen Computer für den Versand flottmachte.

Von wegen „amerikanische Freundschaften sind oberflächlich“. Meine Frau schwört darauf, dass amerikanische Freunde praktisch sind. Felicia und Marty sind aus Rockville quer über den Atlantik gekommen und haben uns in Bayern besucht.

Ungewöhnlich sei das für Amerikaner, sagt mein Freund Günther, den ich dreißig Jahre nicht gesehen hatte. Günther und mein alter Freund Ralph kamen aus Berlin mich in Bayern besuchen. Längst verschollen geglaubte Freunde melden sich wieder. Auch meine alte Genossin Elsa, eine Amerikanerin, die in Berlin lebt und mit der ich seitenweise Briefe über Vorzüge und Nachteile des Lebens in Deutschland und Amerika tausche.

Cornel Faltin, ein Kollege aus Washington, kommt mich besuchen, einer, der eher am ganz anderen Ende des politischen Spektrums steht. (Das gehört zu den ersten Dingen, die ich in Washington lernte: Die Kollegen zerfallen in zwei Parteien. Nicht in links und rechts. Oder demokratisch und republikanisch. Sondern in jene, die eher proamerikanisch sind und gerne in Washington leben, und jene, die Amerika eher wie eine travelling freak show betrachten, wie mein Freund Jerry Riemer sagt, der sich regelmäßig per E-Mail nach mir erkundigt und mich von meiner Plauderrunde im Café am DuPont Circle grüßt, von dem Soziologen Ben Frankel und dem Philosophen Georges Rey.)

Dass ich so nette Freunde hatte, wusste ich vor der Krankheit nicht. Ich will nicht ungerecht sein.