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Die Seeanemone

Vom Marschflugkörper unmittelbar zum Beckenboden katapultiert, auf psychedelisches Kachelblau: Grenzerfahrung Schwimmbad

Grenzerfahrungen sind auch im Schwimmbad möglich. Jedenfalls vermeide ich inzwischen meine bisher doch eher intime Nähe zum Beckenrand. Entsprungen der Idee: Lebensrettender Halt ganz in ihrer Nähe! Jedoch vernachlässigte ich dabei vollkommen die Unberechenbarkeit von „Wasserbomben“.

Der zivilisierte Mensch, ruhig einher schwimmend, mit hoch erhobenem Haupt – übrigens das einzige Körperteil, das weithin sichtbar von mir über der Wasseroberfläche gehalten wurde –, geriet zwischen unsichtbare Fronten und wurde zum Opfer. Die exponierte Lage besagten Körperteils erhöhte natürlich die Treffsicherheit der Krieg führenden Partei. Aber diese Überlegung sollte ich erst viel später anstellen.

Ehe ich auch nur im entferntesten begriff, was mir geschah, detonierte der Marschflugkörper direkt auf dem Zielgebiet. Ich wurde zum Beckenboden katapultiert und kam nach Stunden zu mir. Glaubte ich damals jedenfalls. Ich schlug die Augen auf und war sofort gefangen von der zauberhaften Unterwasserwelt. Magisch. Dieses psychedelische Blau der Kacheln und die wild tanzenden Sauerstoffbläschen – hin zur Oberfläche.

Mein erster Gedanke: Seeanemonen. Diese zarten Gebilde der Tiefe. Schwerelos wiegen sich ihre empfindsamen Blätter in sanfter Strömung – so wie meine Gliedmasse – im sanften Sog der Filteranlage. Gelassen – mit der Ahnung von Ewigkeit – beobachtete ich das mühsame Gestrampel von Beinen über mir. Beklagenswerte Kreaturen ohne jede Anmut – galt doch ihr einziges Streben dem Über-Wasser-Bleiben. In der Lächerlichkeit ihrer Bemühung schienen sie nur bedauernswert. Trauriges Leben knapp über der Oberfläche. Einfach erbärmlich.

Nie würden sie die Schönheit und Ruhe im endlosen Blau erfahren. Ganz anders ich – die Seeanemone. Grazil trieb ich dahin. Die Schönheit des Elements in mich aufnehmend. Überzeugt die Verlangsamung der Zeit hier unten zu erfahren. Neptuns Welt. Es gab sie wirklich. Umso erstaunlicher dieser plötzliche unwiderstehliche Drang, Luft holen zu wollen. Absurd. Seeanemonen sind keine Lungenatmer. Da war ich mir ganz sicher. Aber mein – bisher ach so fragiler – Körper bewegte sich martialisch. Außer Kontrolle. Beschämend in seiner rohen Kraft. Vergleichbar dieser traurigen Spezies über mir.

Doch es war nicht mehr aufzuhalten, und tatsächlich durchstach ich pfeilgleich die Wasseroberfläche. Schaumgeboren sozusagen. Viel zu schnell lief wieder die Zeit. All diese Hektik um mich herum. Ich hätte schreien können. Ersatzweise hustete und spuckte ich unkontrolliert. Abscheulich.

Wie ich letztendlich aus dem Wasser kam, weiß ich nicht mehr. Die Seeanemone in mir bedauerte recht lange, in dieser schnöden „Oberwasserwelt“ gestrandet zu sein. Ich – zwischenzeitlich wieder Mensch – tendiere seither bei Schwimmbadbesuchen eindeutig zum „um sich schlagenden“ Kraulstil. Mittig bahnbrechend – versteht sich.

HEIKE DISSE

Die Autorin arbeitet als freischaffende Künstlerin und lebt in Stuttgart

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