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Der Paragraf 218
Das werdende Leben ein heiliges Gut des christlich geprägten Europa? Ach was. Ausgerechnet im finsteren Mittelalter blieben Frauen, die zu Beginn einer Schwangerschaft abtrieben, meistens von Strafen verschont. Nach Ansicht der Katholischen Kirche war der männliche Embryo erst 40 Tage nach der Empfängnis mit einer Seele begabt, der weibliche gar erst nach 80 Tagen.
Zu Beginn der Neuzeit allerdings kannten die Strafen für „Kindsmörderinnen“ und ihrer der Hexerei bezichtigten Helferinnen keine Grenze mehr: Pfählen, Verbrennen, Enthaupten. Mit der Tötung von Millionen „Hexen“ wurde zugleich weibliches Wissen um natürliche Verhütungsmittel vernichtet.
Der Paragraf 218 trat im März 1871 kurz nach Gründung des Deutschen Reiches in Kraft. „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft“, hieß es damals. HelferInnen sollten sogar zehn Jahre bekommen. 1922, 66 Jahre vor den „Memminger Hexenprozessen“, holte die Polizei in einer württembergischen Kleinstadt 2.000 Patientinnen eines Arztes aus ihren Wohnungen, um sie öffentlich der Abtreibung zu beschuldigen.
Gut 40 Jahre vor der Stern-Kampagne formierte sich eine breite Bewegung gegen den „Schandparagrafen“. Zehntausende protestierten und demonstrierten, als 1931 der kommunistische Arzt Friedrich Wolf, Verfasser des Abtreibungsdramas „Cyankali“, verhaftet wurde.
Die Nazis verschärften den Paragrafen 1943 nochmals: Abtreiber erhielten nun die Todesstrafe. Dies galt nicht, wenn die Embryonen „nicht arisch“ oder „erbkrank“ waren.
Ab 1949 galt der Paragraf 218 wieder in ähnlicher Form wie in der Weimarer Republik. Jeder der 374 Frauen, die sich 1971 im Stern zur Abtreibung bekannten, drohte bis zu fünf Jahre Haft. Während 1972 in der DDR die Fristenregelung ohne Beratungspflicht eingeführt wurde, zögerte die sozialliberale Koalition immer noch, das Gesetz zu ändern. Um den Druck Richtung Reformierung zu erhöhen, bekannten sich Anfang 1974 im Spiegel 329 ÄrztInnen, Frauen zur Abtreibung verholfen zu haben. Tatsächlich verabschiedete der Bundestag kurz darauf eine Fristenregelung, die jedoch 1975 vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde. „Der Staat“, so die richterliche Begründung, „muss grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen.“ 1976 wurde daraufhin eine Indikationsregelung verabschiedet, nach der auch abgetrieben werden durfte, wenn sich frau in einer „sozialen Notlage“ befand.
Nach dem Fall der Mauer musste ein bundesweit einheitliches Recht geschaffen werden. 1992 stimmte eine Bundestagsmehrheit für eine zwischen SPD und FDP ausgehandelte Fristenregelung mit Beratungspflicht, die 1993 wiederum vom Bundesverfassungsgericht gekippt und durch eine Übergangsregelung ersetzt wurde. „Das Ungeborene“, argumentierten die Richter erneut, habe „in jedem Stadium der Schwangerschaft ein eigenes Recht auf Leben.“
1995 verabschiedete der Bundestag eine von CDU- und SPD- Frauen ausgehandelte Neuregelung. Seitdem gilt Abtreibung als rechtswidrig, aber straffrei, solange die Frau sich zuvor hat zwangsberaten lassen. USCHE
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