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: Wie sich das Leben auf Tour vom grauen Berliner Szenealltag unterscheidet

Rock me in crazy Konstanz

Der Frühsommer in Berlin ist im Moment nicht sehr inspirierend. Man könnte rauschhafte Nächte unter stinkenden Holunderblüten zubringen, in schwitzigen Räumen elektronische Musik konsumieren oder zu Hause bleiben. Toll. Als Musikerin gibt es wenigstens die Möglichkeit, dem grauen Berliner Szenealltag zu entfliehen, um geborgen in der Gruppe glanzvollere Städte wie Jena, Nürnberg und Göttingen zu besuchen. Das ist eine feine Sache, und überhaupt: Reisen bildet.

Erfahrungsgemäß fällt eine reisende Musikgruppe bereits nach einer Stunde Autobahn auf den entwicklungspsychologischen Stand des Holozän zurück. Je länger die Fahrt, desto tiefer die Gespräche. Moderne Mythen der Ernährungswissenschaft werden erörtert – ein hartgekochtes Ei zu verdauen kostet den Körper mehr Kalorien, als das Ei tatsächlich hat. Ergo nimmt man von hartgekochten Eiern total ab, man zehrt praktisch aus.

Die Vegetarismusdebatte gipfelt gern in der hochphilosophischen Frage: „Ist das Tier mehr wert als die Pflanze?“ Und der Themenblock „sinnesfreudiger Katholizismus versus bußkittliger Protestantismus“ wird immer wieder verhandelt, endet aber meistens in der Sackgasse „Vatikan und Familienplanung“. Das Fahren ist eigentlich immer das Schönste. Kurz nach Berlin tauchen die ersten Raststätten auf: Fläming, Michendorf. Sofort wird Halt gemacht. Alle steigen aus und stürzen zur Salatbar. An der hat sich in den letzten Jahren einiges getan hat, nicht nur bei Marché. Werden verschieden große Teller zu Pauschalpreisen angeboten heißt die Parole: Schichten, also möglichst viel Salatmasse pro cm[2]zu balancieren. Leider wird immer öfter der 100-Gramm-Preis eingeführt, was an der Kasse zu bösen Überraschungen führt. Im Tankstellenshop werden anschließend die Intellektuellen-Blätter Bravo, Gala und Die Aktuelle gekauft. Die weitere Fahrt verläuft unter vergnüglichem Vorlesen und Gelächter über Jugend-und Adelsprobleme wie krumme Penisse und das Schönheitsgen der Grimaldis. So sind bald 500 km geschafft.

Vor der üblichen Rockstar-Routine wie Fanbetreuung, Drogenexzess und Hotelzimmerverwüstung muss natürlich auch das Konzert gespielt werden. Vor allem in ländlichen Gebieten heißt es da, höllisch aufzupassen und nicht großstädtisch-arrogant zu wirken. Fängt man zum Beispiel in Konstanz das Konzert eine halbe Stunde später an, also um 20.30 Uhr, wird gleich: „Typisch Berlin . . . die meinen, sie können machen, was sie wollen“ gehämt. Berliner Bands haben es zur Zeit nicht leicht, vor allem in Westdeutschland. Hauptstadtwahn! Neue Mitte!! Berliner Republik!!! Dagegen hilft nur betont bescheidenes Auftreten. Selbst die gutmütigen Stuttgarter zahlen nicht mehr gerne Eintritt, um anschließend mit Daimler-Benz -Witzen erniedrigt zu werden. Als Berliner Band mit badischem Akzent ist man dort aber noch einigermaßen gelitten.

Am goldigsten sind immer noch die Wiener. Sie mögen es, wenn man sie in ihrem eigenen Dialekt beschimpft. Mit einem langgezogenen „Geh scheißen“ (heißt soviel wie: hau ab, mach dich schmal) hat man sich schnell in ihr Herz geschlichen. Nach dem Konzert fragen sie nach „Leiberl“ (T-Shirts) und fanden alles „leiwand“.

So ist jeder Tag mit Kilometern und Erlebnissen gefüllt. Trotzdem freut man sich nach drei Wochen sehr auf das schnöde, alte Berlin. Kurz vor Dreilinden klopft sogar das Herz schneller. Alles sieht grauer und hässlicher als in der Erinnerung aus. Endlich kommt man zu Hause an, fällt aufs Sofa, telefoniert rum und erfährt, dass hier nix, aber auch rein gar nix los ist und war. CHRISTIANE RÖSINGER