: Scheitern inklusive
Alle bisherigen Labourregierungen nach dem Zweiten Weltkrieg sind an einer der auf dieser Seite beschriebenen Fragestellungen gescheitert: Empire, Immigration und Verfassungsreformen – Fragen also, die die britische Identität betreffen. Die Regierung Blair könnte an Europa beziehungsweise an der Frage nach dem Verhältnis Großbritanniens zu Europa scheitern.
Die Regierung von Clement Attlee (1945 bis 1951) gründete nach den Entbehrungen des Krieges den modernen britischen Wohlfahrtsstaat und hätte damit eigentlich ewigen Ruhm ernten müssen. Aber beim gleichzeitig begonnenen Abbau des britischen Kolonialreiches produzierte sie Chaos: Auf die schlecht organisierte Teilung und Unabhängigkeit Britisch-Indiens mit Millionen Toten 1947 folgte ein Jahr später die ebenso konzeptlose und von Gewalt begleitete Staatsgründung Israels auf Teilen des britischen Mandatsgebietes Palästina. Als dann auch noch der Ost-West-Konflikt dauerhaft wurde, war den Briten klar: Diese Regierung ist den Problemen der Welt nicht gewachsen. Sie wählten die Tories unter Winston Churchill wieder an die Macht.
Die Regierung von Harold Wilson (1964 bis 1970) trat an, nachzuholen, was die Konservativen in den dreizehn Jahren zuvor versäumt hatten: die umfassende Modernisierung der Wirtschaft, um Großbritannien in das „technologische Zeitalter“ zu führen. Aber Großbritannien war inzwischen ein anderes Land geworden, Ziel von Einwanderern aus allen Nachfolgestaaten des Empire. Wachsender rechter Unmut darüber provozierte Labour zu scharfen Antiimmigrationsmaßnahmen, die im Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis standen. Die Regierung stand als Getriebene da, trotz insgesamt guter Bilanz. Es gab 1970 keinen Grund mehr, sie wiederzuwählen.
Die Regierungen von Harold Wilson und James Callaghan (1974 bis 1979) waren Krisenkabinette zur Abwehr der übermächtigen Gewerkschaften in der Blütezeit der britischen Streikkultur und des drohenden wirtschaftlichen Ruins, als sich schon der Aufstieg eines neuen, kompromisslosen Konservativismus unter Margaret Thatcher abzeichnete. Die einzige eigene Initiative ergriff Labour in dieser Zeit im Feld der Verfassungsreform: Die Regierung arbeitete Autonomieprojekte für Schottland und Wales aus, um den erstarkenden nationalistischen Bewegungen in diesen Landesteilen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als die betroffenen Wähler sie 1978 in Volksabstimmungen knapp ablehnten, war Labour am Ende und machte Thatcher Platz.
Die Regierung von Tony Blair (seit 1997), Nachfolgerin der nach achtzehn Regierungsjahren abgewirtschafteten Konservativen, ist auf den Ruinen der alten Labourpartei entstanden und mit einem umfassenden Programm zur moralischen und ökonomischen Erneuerung des Landes angetreten – ähnlich wie Wilson 1964. Anders als damals funktioniert die Wirtschaftspolitik. Aber Großbritannien ist inzwischen wieder ein anderes Land geworden, Mitglied einer immer mächtigeren Europäischen Union und ihr gegenüber zunehmend in der Defensive, was wachsenden Unmut vor allem bei der Rechten und auf dem Land provoziert.
Tony Blair hat es bisher für klug gehalten, zu diesen Fragestellungen so wenig Meinung wie möglich zu haben. Die Gefahr ist, dass auch seine Labourregierung wieder als Getriebene dasteht, trotz insgesamt guter Bilanz. Wie viele Gründe wird es beim nächsten Mal geben, Blair wiederzuwählen? DOMINIC JOHNSON
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