: Kein stumpfes Nummern schieben
■ Im Scenario in der Friesenstraße gibt es jetzt monatlich „varieté total“ mit Erotik total und total tollen Kleinkünstlern
Bastis Job ist simpel: Er muss zählen, von eins bis zehn. Bastis Arbeitskleidung dagegen ist sehr vielfältig, einmal mit Schlips, weißem Anzug und Kniestrümpfen bis unter die Achseln, dann wieder mit Fliegermütze im satinblauen Ganzkörper-Gymnastikanzug. Gerade hat er sich ein drittes Auge aus Gummi auf die Stirn geklebt, das heißt: Es kommt Auftritt Nummer drei. Sebastian Matt ist Nummernboy beim Kleinkunstabend „varieté total“ im Scenario in der Friesenstraße.
Auf der Damentoilette steht eine rothaarige Frau vor dem Spiegel und schminkt sich ihr Gesicht silbern. Vielleicht war in der Garderobe zu viel Trouble. Man wünscht ihr Glück. Später wird sie im weißen Glitzeranzug mit ihrer Kumpanin als „Sputnix“ an dicken Bändern von der Decke baumeln, fließende Bewegungen, leichte Schwünge ausführen, sich ein letztes Mal kraftvoll Aufbäumen und dann den grausamen Sputnix-Tod sterben. Das Publikum wird begeistert sein von Susanne Richter und Petra Tobies. Basti klatscht sich vier Tischtennisbälle ins Gesicht: Auftritt Nummer vier.
Draußen basteln ein paar Leute am letzten Schliff eines mit grün-blauen Fetzen behängten Drahtseilgestells. Eine von ihnen ist Daniela Franzen, die hier später als Motte mit ihrer Partnerin Nadia Meinhardt, dem Schmetterling, unter dem Namen „Mari Posa“ balancieren wird. Aber das ist bei weitem nicht ihre einzige Aufgabe. Daniela Franzen ist überdies noch eine Hälfte der Legos. Zu quakenden Rhythmen baut die Berliner Akrobatin zusammen mit Ralf Schucht gewagte Menschenskultpturen. Eigentlich ist Daniela Franzen aber zusammen mit Simone Meyer-Heder, der Betreiberin des Scenario, die Organisatorin des Kleinkunstabends.
Die beiden Frauen vermissten schmerzlich eine ausgeprägte Kleinkunstszene in Bremen. Deshalb organisieren sie jetzt jedes zweite Wochenende im Monat „varieté total“. Am Donnerstagabend war Premiere. Daniela Franzen hat dabei die künstlerische Leitung inne, sie verfügt über zahlreiche Kontakte zur Berliner Kleinkunst-Szene. Der Start ist gelungen. Basti stakst mit einer rosenumrankten Fünf über die Bühne.
Der blonde Struwwel-Peter-Verschnitt Benjamin Smalls, alias Ben Richter, schleppt einen riesengroßen Koffer an, jongliert ein bisschen, lacht eunuchenhaft, wenn ein Ball auf den Boden fällt, und verzieht sich wieder in seinen Koffer. Eine „flamme fatal“ betritt die Bühne, pustet den Koffer weg und liefert sich dann mit ihrer Partnerin einen kraftstrotzenden aber hocherotischen Kampf um eine Flasche Wodka.
Es geht lange hin und her, Stöckelschuhe klackern, im Hintergrund läuft ein russischer Tango, sie kämpfen und trinken. Der Tango fängt an zu leiern, leiert immer fürchterlicher, bis eine der beiden Frauen von ihrer ebenfalls sturzbetrunkenen Partnerin von der Bühne geschleift werden muss. Basti verfällt mit seinem Zwilling im Fernseher in einen hitzigen Streit darüber, ob denn jetzt Nummer sieben oder acht komme. Sebastian Krämer steht auf der Bühne. Ein spitznasiger Herr mit Igelfrisur im grauen Anzug und gleichzeitig Meister des witzigen Chansons. Er wettert über Rotlichtphasen an Ampeln, („Ampel, du bist ein Zollamt, dass einem einen Keks Zeit abknöpft“) erläutert das Todeserwartungs-Schmatzen einer Tiefkühlpizza und presst den ganzen Abend über immer wieder die gewagtesten Klänge aus dem Klavier. „Varieté total“, das bedeutet nicht abgehacktes Nummern schieben; die Akteure treten nicht der Reihe nach auf und ab. Der gesamte Abend ist ein in sich geschlossenes Ganzes, die Künstler treten immer wieder in anderen Konstellationen auf, es ist ein einzigartiges komödiantisches Theaterstück.
Basti lässt sich in staksiger Elégance eine Styropor-Neun auf den Kopf sausen. Die fatalen Flammen Claudia Schnürer und Irmtraud Spiegel bilden nun den krönenden Abschluss. Sie tragen dunkelblaue Samtfetzen. Ein Feuertanz. Die Luft beginnt zu knistern und das kommt nicht nur von den Flammen. Susanne Polig
9. 6. um 20.30 Uhr. Das nächste Kleinkunstprogramm am 13., 14. und 15. Juli, jeweils um 21.30 Uhr
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