piwik no script img

Der Nahe Osten ist fern

Lebendige Zeugnisse der jüdischen Kultur stehen im Mittelpunkt des am Sonntag im Kino Arsenal beginnenden 7th Jewish Film Festival. Die aktuelle Situation in Israel wird allerdings nur gestreift

von NINO KETSCHAGMADSE

Die Eingabe des Namens Nicholas Winton fördert bei deutschsprachigen Suchmaschinen nur eine klägliche Zahl von Texten zu Tage. Das erinnert stark an den Bekanntheitsgrad von Oskar Schindler, ehe Steven Spielberg einen Film über ihn in die Kinos brachte. Auch der Brite Winton hat Leben gerettet. Als junger Börsenmakler war er nach Prag gekommen und organisierte noch im September 1939 Züge, die rund 700 jüdische Kinder zu Gastfamilien nach England und damit ins sichere Exil brachten.

Sechzig Jahre später entstand in Tschechien ein Film der auf der Lebensgeschichte dieses Mannes beruht, in Deutschland allerdings noch keinen Kinostarttermin hat. „All My Loved Ones“ eröffnet morgen Abend das 7. Berlin Jewish Film Festival. Der aus der Sicht eines der geretteten Kinder gedrehten Produktion eilt der Ruf voraus, allzusehr um die Gunst von Hollywood bemüht zu sein, aber immerhin dürfte er einiges für die Bekanntheit des mittlerweile 92-jährigen Herrn Winton tun.

Überhaupt gibt sich das Jewish Film Festival in diesem Jahr weitgehend – nennen wir es der Höflichkeit halber so – leicht verdaulich. Filme zur aktuellen Krise in Nahost waren nicht zu erwarten, aber dass auch andere kontroverse Produktionen aus Israel außen vor bleiben, erstaunt dann doch. Zum Beispiel hätte man den im letzten Jahr entstandenen „Eshet Cohen“ zeigen können, einen Film, der fragt, ob es für einen ultraorthodoxen Juden eine Ausnahme vom strengen religiösen Gesetz geben kann, damit er bei seiner geliebten Frau bleiben darf, „obwohl“ diese einer Vergewaltigung zum Opfer fiel. Warum zeigt man nicht vorab den im Juli in den deutschen Verleih kommenden Film „Kadosh“ von Amos Gitai, der sich ebenfalls kritisch mit fundamentalistischen Eheregeln auseinander setzt?

Stattdessen laufen in dem diesmal „Leben und Überleben“ überschriebenen Programm gleich zwei Filme, die den Alltag von Juden in Frankreich widerspiegeln und dabei das Thema religiöse Zwänge nur streifen. In Thomas Gilous „La vérité si je mens!“ geht es um Verkaufsgeschäfte in einem Pariser Modeviertel und um einen Nichtjuden, der nicht gerade viel dagegen tut, dass er ständig für einen Juden gehalten wird. Ebenfalls heiter gibt sich Jean-Jacques Zilbermanns „Man Is Woman“, in dem es ein Schwuler den Verwandten zuliebe mal mit einer Frau versuchen soll. Beides spritzige Filme, aber von jüdischer Kultur erzählen sie nicht viel.

Insgesamt stehen beim Jewish Film Festival knapp 20 internationale Produktionen auf dem elftägigen Festivalprogramm, das bedauerlicherweise nicht mit dem Zeitplan der vom 17. bis 20. Juni in den Hackeschen Höfen stattfindenden Veranstaltungsreihe „Filme zur jüdischen Musik und Kultur“ abgestimmt wurde.

Zusammengenommen liefern beide Veranstaltungen einen interessanten Querschnitt durch jüdische Filmtraditionen von den Zwanzigerjahren bis in die Gegenwart. Ein Großteil davon sind Dokumentationen, die inhaltlich allerdings auch nicht mehr zur Sache gehen als die Spielfilme jüngeren Datums.

Der vielleicht kontroverseste Beitrag beim Jewish Film Festival ist Amir Bar-Levs „Fighter“, der von zwei Holocaust-Überlebenden und ihrer Reise in die Vergangenheit berichtet. Während ihrer Fahrt durch Europa zeigt sich, wie unterschiedlich die Erinnerungen der beiden Freunde an die Nazizeit sind. Ihr Weg führt sie nach Prag, Slowenien und Italien. Je länger die Reise dauert, desto deutlicher treten die Spannungen zu Tage, weil der eine auf Faktentreue beharrt und der andere, ein Dichter, sich auch vorstellen kann, dass manch ein Faschist und KZ-Aufseher durchaus menschlich gewesen sein könnte.

Ansonsten beschäftigen sich die Dokumentationen vor allem mit intimen Porträts und lebendigen Zeugnissen der jüdischen Kultur. Den größten Bogen schlägt dabei Henryk M. Broders „Soll sein – Jiddische Kultur im jüdischen Staat“. Der Autor ging von 1984 bis 1992 in Israel auf Spurensuche, stellt unter anderem die weltweit wahrscheinlich letzte jiddische Tageszeitung vor und erkundet die Einflüsse des Jiddischen auf die deutsche Sprache. Broder, der sich in der Vergangenheit dezidiert gegen die geplante Holocaust-Gedenkstätte in Berlin ausgesprochen hat, weil dies einer „Hierarchisierung der Opfer in wertvolle und weniger wertvolle Opfer“ gleichkäme, wird dem Festival an zwei Abenden beiwohnen. Neben seinem eigenen Film stellt er auch das Werk seines Regiekollegen Alan Berliner vor, dem das Festival eine kleine Hommage widmet.

7th Jewish Film Festival, 10.–20. Juni im Arsenal, Potsdamer Str. 2.Filme zur jüdischen Musik und Kultur,17.–20. Juni, Hackesche HöfeFilmtheater, Rosenthaler Straße 40/41

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen