Die Politiker kritisieren ihr Volk

Nach der Ablehnung des Nizza-Vertrags sucht man in Dublin aufgeregt nach einem Ausweg. Grüne Abgeordnete will den Reformvertrag zu den Akten legen, Regierung favorisiert Zusatzerklärung

DUBLIN taz ■ Irlands Regierung ist seit Freitag im Schockzustand. Die Ablehnung des Vertrags von Nizza im Referendum vom Donnerstag hat sie völlig überraschend getroffen. Lediglich zwei von 42 Wahlkreisen hatten mit Ja gestimmt. Die Wahlkreise des Premierministers Bertie Ahern und seiner Stellvertreterin Mary Harney hatten mit 58,2 und 61,6 Prozent den höchsten Anteil an Neinstimmen. Landesweit waren es 54 Prozent.

Die Regierung in Dublin, die dem EU-Gipfel in Göteborg an diesem Freitag mit Schrecken entgegensieht, wird der Bevölkerung eine zweite Chance geben. Es steht fest, dass es vor Ende 2002, wenn der Vertrag von Nizza ratifiziert sein muss, ein neues Referendum in Irland geben wird. Wie man den Iren den Vertrag bis dahin schmackhaft machen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Regierungsbeamten haben am Wochenende die Option ausgeschlossen, den Vertrag neu zu verhandeln. „Es war ein so heftig umkämpfter Kompromiss, dass niemand von vorne anfangen will“, sagte ein Beamter. „Niemand war vollkommen glücklich damit. Wenn wir die Sache für uns verbessern wollten, würden es alle anderen auch versuchen.“

Ebenso schließt die Regierung die Möglichkeit aus, den Vertrag einfach zu begraben. Damit würde man sich zum Buhmann der EU und der osteuropäischen Länder machen, die aufgenommen werden wollen.

Ganz anders sieht das die grüne Europaabgeordnete Patricia McKenna. Sie forderte, den Vertrag von Nizza zu den Akten zu legen: „Es ist Zeit, eine Debatte darüber zu führen, was das Volk wirklich will. Die Regierung muss sich mit diesem Mandat der Bevölkerung an die EU wenden und verlangen, dass dieser fehlerhafte Vertrag nicht in Kraft tritt.“

Der Ausweg, den man in Dublin offenbar favorisiert, ist ein dem Vertrag anzuhängendes Protokoll. In diesem soll Irland bestätigt werden, dass es nicht gezwungen werden kann, an militärischen Operationen ohne Einwilligung der Regierung teilzunehmen. Dieses Thema, so die Meinung, habe den Nizza-Vertrag zu Fall gebracht. Ein Protokoll würde jedoch die Zustimmung der anderen EU-Länder erfordern. Einfacher wäre es, eine irische Erklärung an den Vertrag anzuhängen und zu hoffen, dass kein anderes EU-Mitgliedsland Einspruch erhebt.

Ob das den Wählern ausreicht, ist keineswegs sicher. Auf Grund einer Kette von Finanzskandalen, in die Politiker aller großen Parteien verwickelt sind, hat sich in Irland ein Zynismus breitgemacht, der letztendlich zum Nein im Volksentscheid entscheidend mit beigetragen hat. So überlegt die Regierung, einen überparteilichen Ausschuss einzurichten, der jeden Brüsseler Beschluss untersucht und öffentlich debattiert.

Vorerst üben sich die irischen Regierungspolitiker in Demut, nachdem sie den Volksentscheid über den Vertrag von Nizza im Wahlkampf als bloße Formsache behandelt hatten. Bertie Ahern sagte: „Die Regierung ist zutiefst enttäuscht über das Ergebnis. Die Regierung, die großen Parteien, die Gewerkschaften und die katholische Kirche haben es nicht geschafft, eine größere Zahl von Wählern zu überzeugen, an dieser wichtigen Abstimmung teilzunehmen.“ Zwei von drei Wählern waren zu Hause geblieben.

So mancher Politiker machte jedoch auch keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Wähler: „Das Ergebnis zeigt die unglaubliche Ignoranz gegenüber politischen Themen in diesem Land und es ist an der Zeit, dass Politik in der Schule unterrichtet wird“, sagte Brendan McGahon von der größten Oppositionspartei Fine Gael. „Die Leute sind mehr daran interessiert, sich Soap Operas im Fernsehen anzuschauen, sie leben nicht in einer realen Welt. Es ist eine Ironie, dass das Land, das am meisten von Europa profitiert hat, den weniger privilegierten Ländern diese Chance verbaut.“

Doch die Folgen der EU-Osterweiterung für Irland war nur für eine kleine Gruppe Grund, den Nizza-Vertrag abzulehnen. Anthony Coughlan, Sprecher der Kampagne „No to Nice“, sagte, dass die Verhandlungen über die Aufnahme neuer Länder ungehindert weitergehen sollten. Würde die Regierung allerdings versuchen, den Vertrag von Nizza dem irischen Volk mit kosmetischen Änderungen erneut vorzulegen, so würde seine Organisation Verfassungsklage erheben. „Und sollten wir verlieren“, sagte Coughlan, „so würde die irische Bevölkerung beim zweiten Nizza-Referendum um so deutlicher dagegen stimmen.“ RALF SOTSCHECK