: Der tolle Mensch
Die soziale Intelligenz von Naturwissenschaftlern ist begrenzt. Das kann zum Problem werden. Anmerkungen zur biotechnologischen Diskussion
von PETER FUCHS
Manchmal lohnt es sich, daran zu erinnern, dass heiß geführte Gegenwartsdebatten nicht immer vollkommen neuartig sind. Das gilt auch für die biotechnologische und bioethische Diskussion, an der zweifelsfrei die heraufbeschworenen technischen Möglichkeiten der Selektion und der Manipulation bis dahin für unverfügbar gehaltener Merkmale des Menschen imponieren. Hier finden sich allein im Genre des Fiktionalen und des Mythischen hinreichend Vorspiele. Man denke nur an den Homunkulus, den Goethe noch einmal im „Faust“ reanimiert hat, an Golem und Frankenstein.
Auch die Wissenschaft hat Hoffnungen gepflegt, den Menschen verändern, gar verbessern zu können. Es genügt, auf die frühen Kybernetiker hinzuweisen, die sich in der Vision ergingen, der Mensch sei konditionierbar. Und unmittelbar einschlägig ist der Nürnberger Ärzteprozess (1946/47), der dazu führte, dass der Nürnberger Kodex von 1947 formuliert werden konnte, in dessen Zentrum die Idee stand, dass die medizinische Forschung nicht um ihrer selbst willen betrieben werden könne, nicht dem Fortschritt der Wissenschaften diene und auch nicht der Gesellschaft, sondern einzig und allein dem Menschen, dessen fundamentale Interessen nicht durch irgendwelche andere Interessen sabotiert werden dürften. Man hatte ja gerade gesehen, was geschieht, wenn die Hunde der Wissenschaft von der Kette gelassen werden.
Nicht neu ist aber, dass die Diskussion mit der Frage steht und fällt, wer oder was denn als Mensch in Frage komme, wer darüber befinde, was eine positive menschliche Eigenschaft sei, was nicht, was ein erstrebenswertes Leben ausmache, was nicht, wer gerade noch ein Mensch genannt zu werden verdiene und wer noch nicht.
Entscheidend ist, dass darüber immer schon sozial disponiert wurde. Sind Pygmäen Menschen? Nein, sagt das Mittelalter in Gestalt von Albert Magnus. Sind sichtbar Behinderte Menschen? Nein, entscheidet das antike Rom und vernichtet sie in der cloaca maxima. Andere Völker setzen sie bei Ebbe am Strand aus. Sind Fremde Menschen? Je nachdem. Einst waren sie mitunter essbar, manchmal brach man mit ihnen das Brot. Heute liefern sie Kolorit für Multikultiges, oder man jagt sie durch die Straßen. Das 19. und 20. Jahrhundert erfindet sich die Untermenschen und die Übermenschen, das 20. Jahrhundert schließlich verfällt in Exzesse der Selektion, in denen lebenswertes von lebensunwertem Leben getrennt wird.
Das sind nur Streiflichter, die auf einem Meer von möglichen Beispielen tanzen. Zum Glück kann man heute definitiv sagen, dass es den Menschen nicht gibt. Man kann ihn nicht aufsuchen, und braucht ihn deshalb auch nicht zu fürchten. Er ist nichts jenseits seiner sozial fungierenden Beschreibungen. Moderne Theorien können formulieren, dass er das „ist“, was ein Beobachter unterscheidet, wenn er den Menschen bezeichnet. Und sie können hinzufügen, dass es in der modernen Gesellschaft konkurrierende Beschreibungen/Beobachtungen gibt, aber keinen archimedischen Beobachter, der das Problem der Beobachtungsabhängigkeit dessen, was als Mensch gehandelt wird, aushebeln könnte. Wir kennen (glücklicher- oder unglücklicherweise) keine absoluten Festgelegtheiten mehr in dieser Hinsicht, sondern nur noch befristete Festlegungen, und wir wissen auch, dass wir es mit einer Mehrheit, gar Vielzahl solcher Festlegungen zu tun haben, die sich auf dem Beobachtungsmarkt der Gesellschaft (in den Massenmedien) tummeln und mitunter diametral entgegengesetzte Positionen besetzen.
Unter solchen Voraussetzungen liegt Dogmatismus nahe (Der Mensch ist dies oder das . . . basta!). Daraus resultieren immerhin Rezepturen (Man darf, man darf nicht . . .!). Das schafft Orientierungssicherheit für Anhänger je bestimmter Beschreibungen des Menschen, aber zugleich wird (wie bei allen Fundamentalismen) kognitive Lernbereitschaft (also die Fähigkeit, anhand von Überraschungen zu lernen) erodiert. Stattdessen herrscht der Stumpfsinn des Normativen.
Aber auch bei Skeptikern, die sich der Beobachtungsabhängigkeit des Konzepts vom Menschen stellen, finden sich Fixierungen: Der Fortschritt ist unaufhaltbar; was wir nicht tun, werden andere machen; wir müssen an das Ganze denken, vom Dach schauen, die Zukunft einkalkulieren. Das ist, genau besehn, nicht minder dogmatisch, und wenn es nicht dogmatisch ist, dann wenigstens blind gegenüber dem einfachen Umstand, dass irgendwer offenbar entscheidet, was als Fortschritt zu gelten hat, was nicht. Außerdem stehen die Skeptiker, die sich als Pragmatiker verstehen, unter erheblichem Motivverdacht. Jedenfalls scheint es so, dass sich oft ein leicht fiebriger Glanz in den Augen nicht verbergen lässt, wenn jemand meint, das Mythologem des Fortschritts an die Expansion der Ökonomie binden zu können. Die Biotechnologie ist, man weiß es, kapitalmagnetisch und Global Business ihre fette Hure.
Wenn man jedoch zugesteht, dass der Mensch sowieso „sei“, als was er unter bestimmten sozialen Bedingungen beobachtet wird, dann kann man fragen, ob mit der Biotechnologie (in ihrem weitesten Sinne) sich etwas an den geläufigen Beobachtungen geändert habe. Was ist neu?
Neu ist, dass wir mit dem Wissen und Können, das uns die Biotechnologien bescheren, unser Wissen über die Conditio humana endgültig abschreiben, dass wir es vergessen können. Jetzt ist klar, dass sie nicht bekannt ist und niemals bekannt war und dass sie, wenn sie bekannt wäre, nur strittig (gegenbeobachtbar) bekannt sein könnte. Wir wissen, heißt das, nicht im Mindesten, was manipuliert würde, wenn manipuliert wird; und wir wissen es nicht mehr, weil mit der Möglichkeit der Manipulation das Was abhanden gekommen ist. Erst mit dem Aufkommen der Verfügbarkeit kann gesehen werden, dass die Unverfügbarkeit des Menschen ein Mythos war.
Der tolle Mensch, er könnte erneut auf den Marktplatz gehen und die ungeheuerliche Nachricht verkünden, dass der Mensch tot und die Erinnerung an das, was er gewesen war, verschwunden sei. Die Biotechnologie zeigt uns, dass der Mensch immer schon ein Bild war. Wer gegen sie optiert, ist genötigt, auf seinem Bild zu bestehen. Er gerät nolens volens in die Falle des Anachronismus, wenn er darauf insistiert, dass sein Bild wahr und deswegen verpflichtend sei. Er residiert in einem asylum ignorantiae, wenn er nach den Verkündigungen der Biotechnologien nicht akzeptiert, dass die Beobachtung des Menschen kontingent, also ersichtlich anders möglich ist.
Deshalb kann in der bioethischen Diskussion niemand mehr anders als in ebendiesem Sinne kontingent festlegen, was oder wer (und in welchem Umfang etwas) als Mensch zu gelten habe. Das Einrechnen dieser Kontingenz zwingt dazu, die Frage nach dem Menschen als Unentscheidbarkeit, als Aporie zu behandeln. Was immer geschehen wird, wie immer Entscheidungen fallen werden, sie sind als Entscheidungen in Unentscheidbarkeitslagen zu begreifen. Denn nur (um Heinz von Foerster zu folgen) was unentscheidbar ist, lässt sich entscheiden. Und jede Entscheidung ist als Entscheidung kenntlich, sie signalisiert ihre eigene Kontingenz, weil sie Entscheidung ist. Dass man dies wissen kann, begründet eines der zentralen Merkmale der modernen Gesellschaft: Hyperkomplexität.
Neu ist aber auch, dass mit der Einführung jener Technologien die dann noch verbleibende Idee darüber, als was der Mensch aufzufassen sei, einzig die ist: Er ist der Name eines Mediums, das sich aus einer lose gekoppelten Menge von Elementen (Leuten) zusammensetzt, die zeitanfällig sind (sterben), aber unbegrenzt nachwachsen (geboren werden) und die für befristete Formeinschreibungen zur Verfügung stehen. Mit der Biotechnologie erweist sich das Medium als plastischer, als die Soziologie es je vermuten konnte. Es ist, wie man vielleicht sagen könnte, super-medial, insofern es den technologischen Einschreibungen kaum etwas entgegensetzen kann. Selbst wenn es gelänge, scharfe politische und rechtliche Restriktionen einzuziehen, die Grenzen der Verformung des Mediums zu fixieren, ließe sich diese Plastizität des Mediums nicht mehr vergessen. Sie bliebe als Möglichkeit und als Dauerdrohung erhalten.
Warum aber als Drohung?
Auch hier ist Neues zu vermelden. Bislang (wie immer mit Ausnahmen, aber doch weitgehend) galt, dass das Medium Mensch hoch komplex angesetzt war. Davon reden die Philosophie, die Geisteswissenschaften, die Dichtung und die Kunst, und sie kommen mit diesem Schreiben und Reden und Darstellen des Undarstellbaren nicht an ein Ende. Anders dagegen die Technologien und die Technik. Sie überziehen das Medium mit der Leitunterscheidung von heil/kaputt oder mit funktioniert/funktioniert nicht. Sie sind in dieser Hinsicht ehrfurchtsfreie Beobachter. Sie lassen das Mirakulöse nicht zu. Sie sind auf geradezu unglaubliche Weise in ihrer Beobachtung der Welt beschränkt. Man muss nur an das Verhängnis erinnern, das sich begab, als die moderne Atomphysik zur Atomtechnik wurde, und braucht heute wahrlich nicht mehr vor Nobelpreisträgern zu erschauern. Ihre soziale Intelligenz war zuzeiten (und ist oft noch) beschämend schwach entwickelt. Und erschauern muss man schon gar nicht vor den Koryphäen der Biotechnologie.
Sorge bereitet die Konfrontation eines hoch komplexen (in diesem Sinne: dämonischen) Mediums mit technischen, also einfachen Leitunterscheidungen. In diesem Kontext ist der Zauberlehrling, ich weiß, zu Tode zitiert worden, aber vielleicht darf man daran erinnern, dass Goethe optimistisch war. Er ließ es zu, dass noch ein Meister gerufen werden konnte, der die Techniker (diese Besen) in ihre Schränke zurückwies. Aber wenn moderne Gesellschaftstheorie Recht hat, dann gibt es keine Meister mehr, die man rufen könnte. Und dann?
Dann würde das Medium heillos amorph, und der tolle Mensch könnte verkünden, dass das Zeitalter der Molluske angebrochen sei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen