piwik no script img

„Wir haben zu wenig Radios“

Der Chef der UN-Übergangsverwaltung von Osttimor, Sergio Vieira de Mello, über die Probleme, die die UNO bei der Organisation von Wahlen hat

Interview: SVEN HANSEN

taz: In Osttimor regiert die UNO zum ersten Mal ein ganzes Land – kontrolliert Exekutive, Legislative, Justiz und Militär. Ist Osttimor jetzt nach 400 Jahren portugiesischer Kolonialzeit und 24 Jahren indonesischer Besatzung eine Kolonie der UNO?

Sergio Vieira de Mello: Natürlich gibt uns die UN-Resolution 1272 die volle Autorität in diesen drei Hauptbereichen der Macht, aber wir üben sie nicht auf neokoloniale Weise aus. Zum Beispiel haben wir bei der Exekutive die Struktur eines Kabinetts, in dem Osttimoresen fünf der neun Ressorts vorstehen. Nach den Wahlen am 30. August werde ich das Kabinett umstrukturieren und zwölf Ressorts schaffen, die der Regierungsstruktur nach der Unabhängigkeit ähneln. Ich hoffe, dafür dann auch zwölf Osttimoresen ernennen zu können. Die gesamte Exekutive wird ab September in timoresischen Händen liegen.

Was die Legislative betrifft, haben wir den Nationalrat. Er ist von mir ernannt – nach vielen Konsultationen mit Vertretern der osttimoresischen Zivilgesellschaft. Es ist nicht einfach, mit den Ratsmitgliedern umzugehen. Sie handeln wie ein richtiges Parlament. Die Justiz habe ich versucht von Anfang an ganz in die Hände von Osttimoresen zu legen. Das war ein Fehler. Die Osttimoresen haben keine Erfahrungen mit Gerichten, in denen verhandelt wird. Nach vielen Verzögerungen mussten wir schließlich ausländische Juristen holen, um die Osttimoresen zu trainieren. Alles in allem sind wir keine neokoloniale Macht, aber wenn wir zu lange bleiben, besteht die Gefahr, als fremde Macht gesehen zu werden.

Kann die UNO überhaupt eine nationale Regierung ersetzen?

Ja, die UNO kann ein Land regieren. Wir waren aber darauf nicht vorbereitet. Kosovo und Osttimor sind die ersten Fälle, in denen die UNO die gesamte Regierung stellt. Das Kosovo gehört laut UN-Resolution 1244 zur Republik Jugoslawien und untersteht militärisch der Nato, womit die UNO nicht die volle Hoheit hat. In Osttimor dagegen hat die UNO die volle Hoheit.

Wir haben hier viele Fehler nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ gemacht. Wenn wir es noch einmal machen müssten, würden wir es besser machen. Ein Beispiel: Als ich eintraf – sowohl im Kosovo wie in Osttimor – hätte ich kleine Teams von Experten dabei haben müssen für alle wichtigen öffentlichen Sektoren. Die hätten mir helfen können, einen neuen Zoll, Grenzschutz, ein Finanzministerium, eine Zentralbank oder eine zivile Luftfahrtbehörde, ein Hafenamt oder eine neue Justizverwaltung aufzubauen. Wir haben solche Leute in der UNO aber gar nicht. Wenn wir also so etwas auch künftig machen wollen, müssen wir die gleiche Möglichkeit haben wie beim Militär. Wir müssen auf Knopfdruck reagieren können. Dafür brauchen wir zivile Ressourcen für Regierungszwecke. Das war die Hauptschwäche in Osttimor.

Die UNO war auf ihren Job gar nicht vorbereitet?

Im Fall des Kosovo wussten wir bis drei Tage vor Verabschiedung der Resolution nicht, dass wir den Job übernehmen mussten. Im Fall von Osttimor wusste die UNO, dass, wenn die Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmt, wir das Land zu verwalten hätten. Aber niemand in New York hat realisiert, was das hieß: Statt in einem völlig zerstörten Land anzufangen, hatten wir gedacht, die alte indonesische Provinzverwaltung einschließlich ihrer Beamten vorzufinden. Wir dachten, es wäre eine relativ einfache Aufgabe, wo wir nur Aufseher wären. Wir hatten nie gedacht, dass alles vorher Existierende zerstört sein würde, dass Hunderttausende innerhalb Osttimors und nach Westtimor vertrieben würden, dass die öffentliche Verwaltung zusammenbrechen und verschwinden würde.

Haben die Vereinten Nationen sich nicht als naiv erwiesen, als dann das schlimmste Szenario tatsächlich eintrat?

Der Generalsekretär hat anschließend selbst gesagt, wir sollten immer aufs schlimmste Szenario vorbereitet sein und das beste Szenario als Bonus betrachten, aber eben nie seinen Fall erwarten. Ja, wir waren naiv.

Ihrer UN-Verwaltung für Osttimor (Untaet) wird sowohl vorgeworfen, zu wenig die Einheimischen zu konsultieren als auch viel zu langsam zu arbeiten.

Das stimmt. Es hat uns zum Beispiel mehrere Monate gekostet, Gesetzentwürfe für eine Wahrheits- und Versöhnungskommission vorzubereiten. Wir wollten nicht einfach das südafrikanische, guatemaltekische oder chilenische Modell übernehmen und auf Osttimor übertragen, sondern vielmehr den Wünschen und Vorstellungen der Osttimoresen entsprechen. Wir haben das Gesetz schließlich formuliert und an den Nationalrat geschickt, wo es erst mal feststeckte. Es ist wirklich paradox: Wer konsultiert, verlangsamt.

Das ist aber nicht der einzige Grund, warum wir langsam waren. Beim Wiederaufbau zum Beispiel begannen die Projekte des von der Weltbank verwalteten Fonds sehr langsam. Denn wir mussten erst eine Verwaltungsstruktur aufbauen, die die Dutzenden Millionen von Dollar für die Projekte in den Bereichen wie Gesundheit, Wirtschaft und Kultur überhaupt verwalten und abrechnen kann und über Kontrollmechanismen gegen Korruption verfügt.

Ein ausländischer UN-Mitarbeiter verdient am Tag etwa ein Drittel eines durchschnittlichen osttimoresischen Jahreseinkommens. Wie gehen Sie damit um?

Es ist erstaunlich, dass die Timoresen und die internationale Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit jetzt viel stärker auf diese Frage richten als bei früheren UN-Missionen. Aber ich kann das nicht vermeiden. Warum sollte ein internationaler Experte seine Familie zu Hause zurücklassen und nach Osttimor ans andere Ende der Welt gehen, wenn er dafür keine Anreize in Form einer angemessenen Bezahlung bekommt?

Es gibt ein großes Potenzial für Unzufriedenheit in Osttimor, und es gab schon Unruhen wie im März, als in Baucau eine Moschee angezündet, UN-Personal angegriffen und UN-Fahrzeuge angezündet wurden. Was steckt dahinter?

Zählt man die Zahl der Zwischenfälle und Opfer der vergangenen 18 Monate, würde ich wetten, dass diese Kriminalitätsrate in Osttimor niediger ist als in Deutschland. Wir sollten nichts dramatisieren. Etwa das Phänomen der Arbeitslosigkeit gibt es nur in der Stadt. Wir haben in Osttimor zwei Arten der Kriminalität: eine wachsende Kleinkriminalität und politische Kriminalität. Letztere beunruhigt mich mehr. Die politische Kriminalität wird geschürt von wenigen Agitatoren mit ihrer ultranationalistischen Rhetorik, die aber alle die Integration mit Indonesien bei der Volksabstimmung 1999 unterstützt haben.

Erhält Osttimor genug internationale Unterstützung?

Wir können noch zusätzliches Geld gebrauchen, aber wichtiger ist die einhellige politische und diplomatische Unterstützung, die wir bekommen. Ich sage den Timoresen immer, dass wir erkennen sollen, wie privilegiert wir sind. Denn keine bisherige UN-Mission hat so breite internationale Unterstützung bekommen. Das ist wohl das größte Kapital, das wir haben und das wir nicht gefährden sollten.

In der Frage eines Tribunals sieht es so aus, dass die internationale Staatengemeinschaft der indonesischen Regierung zunächst ermöglichen will, die Verantwortlichen selbst zur Rechenschaft zu ziehen, die indonesische Regierung sich aber sehr zögerlich zeigt. Was ist Ihre Position?

Die von der UNO entsandten Juristen empfahlen im Dezember 1999 die Einrichtung einer internationalen Rechtsprechung für Osttimor, aber nicht die Einrichtigung eines vollen UN-Tribunals wie für Ruanda oder Exjugoslawien. Ich meine, es ist immer besser, zuerst auf nationaler Ebene Recht zu sprechen. Ein internationales Gremium zu schaffen – das sollte die letzte Möglichkeit sein.

Der indonesische Generalstaatsanwalt hat viele Ermittler nach Osttimor geschickt. Im September 2000 wurden als Erstes 22 Verdächtige genannt. Der frühere Präsident Habibie hat die Gründung eines Menschenrechtsgerichtshofes beschlossen. Aber Präsident Wahid ordnete dann an, dass dieses Tribunal nur über Verbrechen urteilen darf, die nach dem 30. August 1999, dem Tag der Volksabstimmung, begangen wurden. Wir sind beim Außenminister und Generalstaatsanwalt vorstellig geworden, um zu erreichen, dass dies wieder geändert wird, was uns zugesichert wurde. Danach kann das Tribunal eingerichtet werden. Wenn die ersten 22 Verdächtigen vor Gericht stehen, wissen wir, woran wir sind.

Laut einer Umfrage wissen nur fünf Prozent der Osttimoresen, was am 30. August zur Wahl steht. Hat Untaet die Aufklärung der Bevölkerung vernachlässigt?

Nein, wir hatten aber große Kommunikationsprobleme. Wir haben uns sehr auf das Radio verlassen, aber die Reparatur des Sendenetzwerkes kostete viel Zeit. Erst seit März kann überall Radio empfangen werden. Zudem gibt es nicht genug Geräte, wir haben welche an die Bevölkerung verteilen lassen. Jetzt haben wir in abgelegenen Gebieten etwa eine Radiogerät pro zehn Familien.

Wann wird Osttimor ein unabhängiger Staat?

Wenn wir den Zeitplan einhalten – Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung am 30. August, ihre Konstituierung am 15. September und Ausarbeitung der Verfassung in drei Monaten und Präsidentschaftswahlen etwa im Februar – dann kann danach die UNO ihre Fahne einholen und die Unabhängigkeit erklärt werden. Aber danach sollten wir uns nicht sofort zurückziehen wie in anderen Fällen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen