Systematisch zerbröckelte Seelen

Der litauische Lyriker Tomas Venclova liest im Literaturhaus  ■ Von Petra Schellen

Übersetzungsprobleme? Die löst Tomas Venclova vorzugsweise selber: Litauisch, Polnisch und Russisch spricht er fließend, erste Interlinearübersetzungen seiner Gedichte fertigt er persönlich. 1937 in Klaipeda im damals kurz unabhängigen Litauen geboren, wuchs der Autor, dessen Vater in der 1940 ausgerufenen Litauischen SSR Kultusminister war, zwischen drei Kulturen auf.

Leicht war es fürTomas Venc-lova daher nicht, sich gegen den Vaterlandsverrats-Vorwurf abzugrenzen. Doch er hielt stand, ging an die Wilnaer Universität, engagierte sich in der litauischen Bürgerrechtsbewegung und begann früh, Gedichte zu schreiben. Wenige davon sind ins Englische, noch weniger ins Deutsche übersetzt: Exakt ein Band existiert derzeit, den der Hamburger Rospo-Verlag, der auch die heutige Lesung im Literaturhaus initiierte, voriges Jahr herausgab.

Inzwischen lebt Venclova in den USA. Emigriert ist er 1977 – nach längerem Tauziehen mit den Behörden, nachdem er sich in einem offenen Brief kritisch über die Kulturpolitik des sowjetisch besetzten Litauen geäußert hatte. Heute hat der Autor, der Boris Pasternak und Anna Achmatova kannte und mit Joseph Brodsky befreundet ist, eine Professur für russische Literatur an der Universtität in Yale.

Brodsky hat auch das Nachwort zur polnischen Venclova-Gedichtausgabe geschrieben, das im Ros-po-Bändchen abgedruckt ist. Als Meteorologen bezeichnet er Venc-lova darin, der „atmosphärische und moralische Katastrophen re-gistriert“. Doch damit legt er nur ein grobes Raster über die Lyrik Venclovas, der am liebsten zwischen die Worte kriechen möchte. Der Zeit Hoffnung entlocken will er in seinen Texten, die oft von der Sowjetherrschaft über Litauen handeln, aber auch polnische Traumata wie den 1970 in Gdansk niedergeschlagenen Arbeiteraufstand spiegeln.

Andere Verse widmen sich der Nachkriegsheimkehr – und dem Entsetzen des Individuums, das Resultate nicht miterlebter Veränderungen vorfindet. Worthülsen, die sich als Dickicht über Ereignisse legen, registriert Venclova. Anderswo beklagt er verformte Landschaften, die es dem Einzelnen unmöglich machen, an den Punkt in der Vergangenheit zurückzukehren, von dem aus sich die Entwicklung zur Gegenwart hin begreifen ließe.

Identität in der Vergangenheit zu finden ist überhaupt das wichtigste Anliegen von Venclovas Gedichten aus der Sowjet-Ära. Und vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass er immer wieder griechisch-mythologische Gestalten wie Apoll in seine Texte streut, als wolle er sein Vokabular gegen das überbordende, die individuell litauische Vergangenheit zudeckende realsozialistische Vokabular abdichten.

Allerdings – depressiv wird der Dichter nicht; ein Funken Hoffnung blinkt immer irgendwo: „Das Licht wie ein Spalt / zwischen Wind und Stein“, sagt ein Gedicht. Licht entsteht im Abrieb zwischen Bewegung und Stillstand – genau da, wo es zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Entweder und Oder keine Alternative zu geben scheint, wo physiologisch kein Raum bleibt. Aber den braucht Venclova auch nicht, wenn er durch Bilder Tiefe schafft und in mythologischem und christlichem Vokabular Stabilität und Wurzel für eine künftig selbstbestimmte Gesellschaft sucht. „Für den Herrn ist immer Raum“, betet er etwa unvermittelt und sucht sich und die Zeitgenossen herauszuziehen aus der Isolationshaft Gegenwart, die es leid ist, der kalten Realität durch Hoffnung zu trotzen.

Noch größere Horizonte öffnen sich, wenn Venclova die Endzeit-Trompeten von Jericho gegen das vergängliche „Flüstern“ des Realsozialismus setzt und halb verzweifelt, halb süffisant anmerkt, dass auch die Sowjetideologie das Gesetz der Vergänglichkeit nicht hat auslöschen können.

Sehr starke, aphorismengleiche Gedichte beschließen den deutschen Band: „Es war konsequent“, schreibt Venclova dort über das 20. Jahrhundert. „Es verwandelte Körper in Zahlen, / und Seelen zerbrö-ckelte es zu Verwesung und Null, / damit der Verstand sich für siegreich hielt. Der Abgrund / mimte Hoffnung – ich würde sagen, ziemlich erfolgreich.“

„Verstummt sind die Lautsprecher, und rissig wird der Granit“, endet eine andere Strophe. Auch sich selbst, den latent schuldbewussten Emigranten, schont er nicht: „Wir wurden in diesem Land geboren. / Jetzt, da wir es verlassen, / wagen wir nicht, uns umzuwenden. (...) / Was war mit uns? Ironie, Geduld, / sehr selten – Mut...“

Tomas Venclova: Vor der Tür das Ende der Welt. Gedichte. Hamburg 2000, 39 Mark.

Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus