: „Man muss nur anpacken“
Wie will Vanete Almeida (57) leben? Die Mitbegründerin der Bewegung der Landarbeiterinnen (MMTR) in Brasilien setzt sich für Bildung, soziale Sicherung und Landbesitz ein. Auf Einladung der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt besuchte sie Deutschland
Interview BERND PICKERT
taz: Beim taz-Kongress haben wir unter dem Motto diskutiert: „Wie wollen wir leben?“. Madjiguène Cissé aus dem Senegal sagte uns, die Frage stelle sich dort überhaupt nicht, vielmehr fragten sich die Menschen dort: „Leben wir überhaupt?“. Wie sehen Sie das, darf man die Frage stellen?
Vanete Almeida: Ja. So schwierig die Situation der Landarbeiterfrauen in Brasilien auch ist – es fehlt an Gesundheitsvorsorge, Wohnraum, Nahrung und Land – so richtig ist doch die Frage. Wir denken darüber nach, und wir wissen auch, wie wir leben wollen: Wir wollen ein Leben mit mehr Gleichheit und Gerechtigkeit, das im Einklang mit der Natur steht und in dem wir Menschen uns gegenseitig respektieren. Es ist auch genau das, was uns Kraft zum Kämpfen gibt: Wir wissen, dass wir Dinge verändern wollen, dass wir eine bessere Welt wollen.
Veränderungen müssen durchgesetzt werden. Wie soll das gehen?
Für mich sind es die Menschen, die die Welt ausmachen. Jeder Einzelne hat in sich ein Widerstandspotenzial. Wir Landarbeiter und Landarbeiterinnen auf der ganzen Welt sind auch denkende und handelnde Menschen. Wir haben die Macht, Dinge zu verändern. So wie die Welt sich derzeit entwickelt, stehen alle Formen des Miteinanderlebens neu zur Debatte. Es gibt nur zwei Wege: Entweder weiter Unterdrückung und Zerstörung, oder eben Veränderung.
Und Sie glauben an die Wende zum Guten?
Aber ja! Wenn ich an meine Träume nicht mehr glauben könnte, hätte ich auch keine Kraft mehr zum Weitermachen.
Die Linke in den meisten Teilen der Welt teilt diesen Optimismus nicht. Woher kommt er?
Ich glaube an die Menschen und ihre Fähigkeiten. Wir alle können sehr hässliche Dinge tun. Aber wir sind andererseits auch in der Lage, unglaublich Schönes zu leisten. Darauf vertraue ich. Das heißt nicht, dass ich irgendwie abgehoben wäre und die Probleme dieser Welt nicht sehen würde. Im Gegenteil: Ich komme aus einer Gegend, die unter Hunger leidet, die starke politische Unterdrückung erlebt hat, einer Region, in der das Wasser fehlt. Und trotzdem bin ich sicher, dass wir Wege finden, um diese Probleme zu überwinden.
Das klingt sehr christlich: Der Glaube an das Gute im Menschen und die unbestimmte Heilserwartung für die Zukunft.
Ich erlebe natürlich Enttäuschungen, Konflikte, Rückschläge. Aber da sind auch immer wieder Errungenschaften, Fortschritte. Ich lebe von den vielen positiven Erfahrungen, die ich mit Menschen gemacht habe. Zum Beispiel mit Analphabeten, die gar nicht wissen, wie die Welt im Ganzen funktioniert, die sich aber ganz genau damit auskennen, wie ihre eigene Welt funktioniert, und die vor allem einen unglaublichen Willen haben und die Kraft zu kämpfen.
Sie selbst sind aufgrund Ihrer verschiedenen politischen Funktionen herausgehoben. Sie führen ein anderes Leben als die Menschen, die Sie vertreten.
Aber ich entferne mich niemals von ihnen. Es ist die große Herausforderung meines Lebens, einerseits die verschiedenen Ämter auszufüllen, die ich übernommen habe, und andererseits im Zusammenleben mit den Landarbeiterinnen den Kontakt zu behalten. Das ist fast ein täglicher Spagat. Ich brauche und nehme mir die Zeit für das Zusammenleben mit den Landarbeiterinnen, für die Arbeit an der Basis. Und ab und zu nehme ich dann Einladungen an wie diese hier. Das Zusammenarbeiten mit den Landarbeiterinnen ist immer mein Bezugspunkt, der mir Kraft für die Arbeit gibt.
Wie war eigentlich Ihre persönliche Motivation, sich in der Landarbeiterbewegung zu engagieren?
Ich wollte die Welt verändern, die Ungerechtigkeit bekämpfen.
Aber es gibt doch ganz viele Menschen, die so aufwachsen wie Sie und nicht die Welt verbessern wollen. Was war bei Ihnen anders?
Ich weiß es nicht. Ich komme aus einer Mittelklassefamilie, ich habe viele Geschwister, und die führen ein ganz anderes Leben als ich. Schon als Jugendliche hat mich in der Stadt, aus der ich komme, die enorme Ungerechtigkeit gestört. Alte Menschen ohne jegliche Altersversorgung. Unterernährte Kinder. Rinderherden der reichen Großgrundbesitzer, die die Nahrungsmittel vertilgen, die den Menschen fehlen. Der Umgang mit der Trockenheit. All das hat mich dazu gebracht, etwas verändern zu wollen.
Und was haben Sie gemacht?
Ich habe angefangen, als Freiwillige mit den alten Menschen zu arbeiten. Da gab es auch Fortschritte: Inzwischen gibt es in Brasilien so etwas wie eine Rente. Ich habe danach begonnen, mit den Landarbeitern zu arbeiten. Ich habe gesehen, wie ihre Felder durch die Rinder der Großgrundbesitzer zerstört wurden. Wir haben dann Zäune aufgebaut, um das Vieh da rauszuhalten. Bei dem Aufstellen der Zäune sind drei von uns erschossen worden, wir alle wurden bedroht. Eines Tages hat mich schließlich ein Führer des Gewerkschaftsdachverbandes in meinem Bundesstaat Pernambuco angesprochen und mich gefragt, ob ich nicht mitmachen will.
Das war vermutlich nicht gerade eine Frauenveranstaltung?
Ich habe an Treffen teilgenommen, wo ich unter 80 bis 100 Männern die einzige Frau war. Ich bin zu Landarbeiterfamilien nach Hause gegangen, und meist hat dann die Frau das Essen auf den Tisch gestellt und sich zurückgezogen, während die Männer und ich aßen und diskutierten. Ich habe dann den anderen Gewerkschaftsführern gesagt, dass es für mich so nicht weitergeht. Ich bin in die Küchen gegangen und habe im Gespräch mit den Frauen sehr klar gesehen, wie stark deren Unterdrückung tatsächlich ist. Das war der Beginn der Organisation. Zunächst waren es kleine Gruppen von zwei bis drei Frauen. Um uns zu treffen, sind wir manchmal 20 Kilometer weit gelaufen. Heute haben wir im gesamten Nordosten Brasiliens über 900 Basisorganisationen, wir sind in ganz Brasilien und lateinamerikaweit vertreten. In dieser Arbeit habe ich nun tatsächlich viele Veränderungen erlebt – struktureller, politischer und persönlicher Art. Und ich habe eins gelernt: Man muss nur anpacken.
Haben Sie Vorbilder?
Nein. Es gibt viele Menschen, die ich bewundere, auch viele, von denen ich enttäuscht bin. Aber ich halte nichts von Mythen und Helden.
Kann es sein, dass Sie selbst Vorbild für andere geworden sind?
Ich glaube nicht. Ich habe ja nichts allein gemacht, sondern immer mit anderen, in der Gruppe.
Aber über Sie ist eine Biographie geschrieben worden*, und Sie haben – nicht nur in Brasilien – eine große Bekanntheit erreicht. Was ist falsch daran, für andere Vorbild zu sein?
Ich halte nichts von Personifizierungen. Allein kann man ja doch nichts durchsetzen.
Welche Rolle spielt für Sie Spaß im politischen Kampf?
Man muss das Leben in seiner ganzen Tiefe leben – den Schmerz und die Freude. Ich habe das von den Landarbeitern gelernt. Diese Menschen erleben, wie ihre Mitstreiter umgebracht werden, und sind trotzdem in der Lage, Feste zu feiern und Spaß zu haben.
Sie sind jetzt 57 Jahre alt. Gibt es für Sie einen Punkt, an dem Sie sagen: Jetzt sollen andere die Arbeit machen, ich habe meinen Teil geleistet?
So würde ich das nicht sagen – ich mache ja die Arbeit auch jetzt mit anderen. Aber ich glaube schon, dass ich meinen Teil bereits beigetragen habe. Ich hoffe auch, dass ich nicht sehr alt werde. Ich möchte früher aus dem Leben gehen.
Warum?
Niemand ist auf der Welt, um immer hier zu bleiben. Der Tod ist etwas Wichtiges, etwas Gutes.
Wenn Sie Ihr Leben noch einmal leben könnten – würden Sie alles noch einmal genauso machen?
Ich würde mehr Sprachen lernen. Und ich würde mehr Kinder großziehen.
* Diese Biografie, „Being a Woman in a World of Men“, verfasst von der deutschen DED-Entwicklungshelferin Cornelia Parisius, ist inzwischen vergriffen.
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