: Zweite Chance kostet Geld
Die schleswig-holsteinische Regierung erwägt, Abendschulen zu schließen ■ Von Sandra Wilsdorf
Mit der ersten Klasse fing es an und endete mit der dreizehnten und dem Abitur. Das war das, was die Freunde auch machten und niemals einen hinterfragenden Gedanken wert. Bei Thomas Giljum ist das anders. Er geht zur Schule, wenn die anderen frei haben. Wenn Zeit für Frau und Tochter wäre, für Freunde und sein Hobby, das Gitarrespielen. Aber er hat einen Traum, er möchte Psychologe werden. Und weil es beim ersten Versuch nicht geklappt hat – mit 16 eben Geld verdienen wichtiger war als Bildung – macht er das Abitur nun im Kieler Abendgymnasium. Sein Tagesablauf: Um 6 Uhr steht er auf, arbeitet dann bis 12 oder 13 Uhr als Krankenpfleger bei einem ambulanten Pflegedienst. „Dann kümmere ich mich kurz um die Familie, und dann geht meine Freundin mit unserer Tochter raus.“ Damit er in Ruhe lernen kann. Um 17.45 Uhr fährt er zur Schule. Die dauert bis 22 Uhr, fünf Tage die Woche, dreieinhalb Jahre lang. Privatleben? Fehlanzeige.
Jetzt, während der Abiturvorbereitung, arbeitet er weniger. Das bedeutet zwar auch weniger Geld, „aber es geht nicht anders“. Er ist froh, dass sein Arbeitgeber mitspielt.
Sabine Rönnau hat dreieinhalb Jahre durchgehalten und das Abi in der Tasche. „Länger hätte ich auch nicht gekonnt“, sagt sie. Sie hat drei Kinder, wollte etwas für sich und ihre Chancen tun. Auch sie will Psychologin werden, schon nächs-tes Semester will sie anfangen.
Für Menschen wie Thomas Giljum und Sabine Rönnau gibt es den zweiten Bildungsweg. Der ist ungleich steiniger als der erste, aber für viele, die im Berufsleben stehen oder eine Familie zu versorgen haben, der einzige. Die schleswig-holsteinische Landesregierung, die eine Deckungslücke von 625 Millionen Mark im Landeshaushalt zu stopfen hat, stellt diesen Weg nun in Frage. Die Abendrealschulen und -gymnasien stehen auf dem Spiel, denn der Rechnungshof hat vorgerechnet, dass nur ein Viertel bis ein Drittel der SchülerInnen den Abschluss schaffen, dass Kosten und Nutzen nicht in diese finanziell harten Zeiten passen.
„Für mich sind die Abendschulen Teil unserer Demokratie“, sagt Katrin Nagel, die seit 18 Jahren Lehrerin am Kieler Abendgymnasium ist. Über 70 Prozent der AbsolventInnen wären Frauen, „mit steigender Tendenz“. Um die 25 SchülerInnen machten an ihrer Schule jedes Jahr das Abitur: „Das sind alles keine Leute, die dem Staat auf der Tasche liegen, sondern die machen zielstrebig weiter.“ Dass die Anzahl der Fehlstunden und die Abbrecherquoten an einer Abendschule deutlich höher sind als am Tagesgymnasium hält sie für völlig normal, schließlich hätten alle Familie oder Job.
Die Landesregierung hat inzwischen versichert, dass die Abendschulen keinesfalls ersatzlos geschlossen werden, sondern möglicherweise unter das Dach der Volkshochschule oder regionale Bildunsgzentren schlüpfen. „Dann aber müssten die Volkshochschulen GymnasiallehrerInnen beschäftigen“, sagt Katrin Nagel. Außerdem sei für die meisten SchülerInnen die Abendschule nur deshalb ein gangbarer Weg, weil sie nichts kostet. Die Landesregierung entscheidet am 16. Juli.
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