: Liebe im Spielmobil
Wohl kalkulierte Poesie mit Wundermündern: In Nana Djordjadzes Film „27 Missing Kisses“ wird das osteuropäische Kino zur Projektionsfläche für westliche Wünsche
So sieht es also aus, das Kino im Osten. Im Zuschauerraum hat sich das ganze Dorf versammelt. Auf der Leinwand läuft „Emmanuelle“, die Männer langweilen sich furchtbar, die Frauen verzehren sich nach Palmen, Korbstuhlromantik und heißen Liebesnächten. Die Anregung zeigt Wirkung. Die chronisch unbefriedigte Veronika vögelt mit Pjotr, dem Tunichtgut. Dann mit Alexander, dem milden Witwer und Astronomen. Alexander wiederum vögelt mit jeder, nur nicht mit der 14-jährigen Sybilla, die unsterblich in ihn verliebt ist. Weil sie aber teilhaben will an diesem frivolen Reigen, versetzt sie das Städtchen mit ihrem lasziven Auftreten bald in helle Aufregung. Es ist Sommer, Zeit für nackte Haut und den Verlust der Unschuld. Aber um die muss man sich keine Sorgen machen in Nana Djordjadzes „27 Missing Kisses“.
Der Film der georgischen Regisseurin ist kaum mehr als amüsantes, bisweilen nervtötendes Kinderkino für Erwachsene. Der in satten Farben ausgemalte Aufführungsort des skurrilen Erotikons ist Georgien. Oder schlicht der wilde Osten: ein grüner Garten Eden allgemeiner Promiskuität und verlorener Scham, in dem man in mediterranen Gartenhäusern speist, Billard spielt und sich dem eigenen Vergnügen hingibt. Der Bezug zur Krisenregion Kaukasus erfordert metaphysische Sehfähigkeiten: auf den Bus, der Sybilla zu Beginn in dieses Paradies brachte, wird eine Panzerfaust abgefeuert. Was in dem offensichtlich zu Sowjetzeiten gefertigten Gefährt – im Gegensatz zu MIR und „Kursk“ gerade noch funktionstüchtig – für große Heiterkeit sorgt. Der Fehlschuss ist einfach poetologisches Zeichen wie sämtliche Charaktere in diesem bunten Spielmobil: ein Brautpaar, ein Bauer mit Hühnerkäfig, die romantische Sybilla, ihr schusseliger Verehrer Mickey, der vom Verliebtsein Durchfall bekommt.
Es ist eine wohl kalkulierte Poesie. Sie beschränkt sich nicht auf die visuelle Nähe zum großen Übervater und Chaosstrategen Emir Kusturica; oder auf die Dauerbeschäftigung seines Exkomponisten Goran Bregovic. Man setzt auch sehr offensichtlich auf comichafte Charaktere mit großen Augen und offenen Wundermündern. Der unbedingte Willen zu gefallen paart sich ohne weiteres märchenhafte Beliebigkeit mit fröhlicher Derbheit, und die Fantasie ist wohlfeil, wenn in „27 Missing Kisses“ so getan wird, als sei Georgien seit jeher ein promisker Hippie-Stadl gewesen.
Die Grenze vom allegorischen Märchen zur lächerlichen Farce wird überschritten, als der träumelnde Trauerkloß Pierre Richard ein Schiff ins Dorf zieht – der Kapitän hat „das Meer verloren“. Schiffe sind wohl auf ewig poetisch, mindestens wie fliegende Teppiche. Das Paradies hat eben seinen Preis. Die Aussparung von bösen Ethnoklischees, dieser Wahrheiten mittlerer Reichweite, ist da keine Lösung. Unversehens wird „der Osten“ eine Ausdehnung dessen, was bei Edward Said „Orient“, bei Slavoj Žižek „Balkan“ und in den Abenteuern von Tim und Struppi „Syldavien“ heißt: eine Projektionsfläche für westliche Wünsche und Fantasien; ein buntes Nebeneinander erotischer Spielereien, wilder Idylle, totaler Anarchie und von Kriegen, die man nie ganz ernst nehmen muss. So betreibt man Sehnsuchtsproduktion für einen Westen und seine Welt, in der alles nur immer geordnet ist. Und natürlich auch für den Osten, der sich hier in Kusturicas New Primitivism einzurichten gedenkt. Am Ende spielt Sybilla die neue Emmanuelle. Keine schöne Vorstellung.
PHILIPP BÜHLER
„27 Missing Kisses“. Regie: Nana Djordjadze. Mit: Nuza Kuchianidze, Shaco Iashvili, Pierre Richard u. a. Deutschland/Georgien 2000. 96 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen