: Wenn die Gondeln auf Abfall fahren
Über 20 Jahre haben zwei Petrochemieunternehmen Luft und Wasser rund um Venedig verseucht. Die italienische Regierung fordert nun hohe Entschädigung, hatte die Ansiedlung der Giftindustrie aber bewusst genehmigt. 28 Manager angeklagt
aus Rom MICHAEL BRAUN
Mit einer Rekord-Entschädigungsforderung wartete die italienische Regierung als Nebenklägerin gestern im Prozess um den Petrochemiekomplex von Porto Marghera bei Venedig auf. 71,7 Billionen Lire – das sind rund 72,5 Milliarden Mark – sollen die beiden Unternehmen Montedison und ENI zahlen für die von ihnen über Jahrzehnte hinweg angerichteten Umweltschäden in der Lagune von Venedig: die Verseuchung des Grundwassers und der Lagune, die Vergiftung von Fischen und Muscheln sowie die massive Luftverschmutzung.
In dem seit 1998 laufenden Prozess wird gegen 28 Angeklagte verhandelt, die als Manager für die beiden Firmen tätig waren. Ihnen wird vorgeworfen, sich durch Verzicht auf elementarste Umweltschutzmaßnahmen in den Siebziger- und Achtzigerjahren der fahrlässigen Tötung von mindestens 157 Arbeitern, der fahrlässigen Körperverletzung von weiteren 103 Beschäftigten sowie der Zerstörung der Umwelt um die Fabriken verantwortlich gemacht zu haben.
Von 1960 an entstand in Porto Marghera – gelegen auf dem Festland gegenüber Venedig – der größte Chemieindustriekomplex Italiens. Die vor allem bei der Produktion von PVC und monomeren Chloridverbindungen tonnenweise anfallenden Schadstoffe wurden auf dem schnellsten und billigsten Weg entsorgt: Ungefiltert durch den Schornstein oder durchs Abwasserrohr direkt in die Lagune. Dazu errichteten die Firmen im Industriegebiet gleich 20 illegale Müllhalden.
Auch als in den Siebzigerjahren eindeutige Forschungsresultate über die Schädlichkeit von Chlorverbindungen veröffentlicht wurden, machte das Management weiter mit seiner Verseuchungspolitik. Deshalb soll es jetzt nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zu Haftstrafen zwischen drei und zwölf Jahren verurteilt werden. Zusätzlich fordert die Regierung, dass die Firmen vollständig für die am Ökosystem entstandenen Schäden einstehen. Mit 53 Milliarden Mark sei die Verseuchung der Grundwasserläufe zu beziffern, mit 14 bis18 Milliarden Mark die Vergiftung des Bodens, mit bis zu 6 Milliarden Mark die Verseuchung des Sediments.
So legitim die Forderung erscheint, so stark legt sie zugleich den Eindruck nahe, der Staat mogele sich an eigenen Verantwortlichkeiten vorbei. Er selbst hatte der Montedison und der ENI die Lizenz zum Vergiften erteilt. In den technischen Begleitnormen zum 1962 erlassenen und bis 1990 gültigen Flächennutzungsplan für Porto Marghera heißt es: „Im Industriegebiet werden Anlagen angesiedelt, die Rauch, Staub und für das menschliche Leben schädliche Stoffe in die Luft sowie giftige Substanzen ins Wasser abgeben und die Vibrationen sowie Lärm erzeugen.“ Vornehm hielten sich dann die staatlichen Aufsichtsbehörden bei der Kontrolle der Giftschleudern zurück. Mehr noch: In all jenen Jahren war die ENI – die ihrerseits eine Beteiligung an der Montedison hielt – zu 100 Prozent in Staatsbesitz.
Einen Zusammenhang zwischen den haarsträubenden Zuständen in den Fabriken und den zahlreichen Krebs-Todesfällen in der Belegschaft streiten die Verteidiger ab. Und von Montedison und ENI einen Betrag zu fordern, der dem Budget eines mittelgroßen Staats entspricht, treibe die beide Firmen direkt in den Bankrott. Den Nebenklagevertreter beeindruckt das Argument nicht: „Dann sollen sie halt in Raten zahlen.“
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