piwik no script img

Mut zum Widerstand

„Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk“. Dieser Talmud-Spruch wurde für viele Belgier während der deutschen Okkupation zum Leitmotiv. Marion Schreibers Buch erinnert daran

von JENS MECKLENBURG

Am 19. April 1943 stoppen drei junge Männer auf offener Strecke einen Zug, der 1.600 Juden vom belgischen Sammellager Mechelen nach Auschwitz transportieren soll. Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau befreien, ausgerüstet nur mit einer Pistole, einer Sturmleuchte und drei Zangen, 17 dem Tode geweihte Männer und Frauen – dann eröffnen die überraschten deutschen Bewacher das Feuer. Bis der Todeszug die deutsche Grenze erreicht, können weitere 225 Gefangene fliehen. „Unter einem sternenglänzenden Himmel, einem kalten und hellen Mond warf ich mich in die Leere, meine beiden Arme über den Ohren, die Hände hinter dem Kopf, um ihn zu schützen“, erinnert sich eine Überlebende an ihren rettenden Sprung aus dem Zug.

Packend und gut recherchiert erzählt die ehemalige Brüsseler Spiegel-Korrespondentin Marion Schreiber diese Geschichte, die sich einreiht in eine seit Ende der 80er-Jahre immer länger werdende Liste von Beiträgen zum Thema jüdischer Widerstand. Die Entschuldigung, es habe unter den Nazis keine Möglichkeit zur Hilfe gegeben, sei falsch, sagte Paul Spiegel zu Recht bei der Vorstellung des Buches. Dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden war das Buch eine Herzensangelegenheit, und so hat er ein Vorwort beigesteuert. Spiegel beschreibt, wie eine belgische Bauernfamilie mutig den kleinen Paul dreieinhalb Jahre lang versteckte. Rund viertausend jüdische Kinder fanden in dem kleinen Land Unterschlupf und konnten so überleben.

Das Buch zeugt von Mut und Zivilcourage der belgischen Bevölkerung während der deutschen Besatzung. Die Hälfte der in Belgien lebenden Juden hat den Holocaust überlebt, weil Freunde, Nachbarn, Polizisten und Fremde „uns die Hand reichten“, wie sich ein Geretteter erinnert. Den aus dem Todeszug Entflohenen wurde mit Geld, Essen, Kleidung und Verstecken, oft unter Gefahr für das eigene Leben, geholfen. „L’honneur des Belges“ lobt die Autorin ihr Gastland, deren Bewohner sich von den brutalen deutschen Besatzern nicht einschüchtern lassen.

Gleiches gilt für jüdische Widerständler, die nie den Mut sinken ließen – und das, obwohl Eichmanns Handlanger, „Judenreferent“ Kurt Asche, alle Juden wie Freiwild hetzte. Schreiber charakterisiert Asche als launischen, groben und sadistischen „Herrenmenschen“ mit Minderwertigkeitskomplexen, der sich an seiner Macht über Leben und Tod berauscht. Der deutsche Militärgouverneur, Freiherr Alexander von Falkenhausen, war dagegen gebildet und „kultiviert“, ja, er verachtete, wie die meisten preußischen Aristokraten, Hitler und seine Parteigenossen. Dennoch rührte er keine Hand, um Juden, Kommunisten oder anderen Verfolgten vor den SS-Kommandos zu schützen.

Für die Gruppe um den jungen jüdischen Arzt Youra Livchitz galt hingegen: „Wer den Gedanken der Humanität zum Schweigen bringen will, der ist unser Feind.“ Und so handelten sie trotz ihrer Zweifel und ihrer Ohnmachtsgefühle gegenüber der Vernichtungsmaschinerie der Nazis: Sie planten die Befreiungsaktion zusammen mit bewaffneten Partisanen – und wagten die tollkühne Aktion sogar alleine, nachdem den Partisanen die Aktion zu riskant wurde. Livschitz und Franklemon wurden später von den Nazis gefasst und hingerichtet. Maistriau konnte entkommen. Rückblickend sagt er: „Es war eine Mischung aus Abenteuergeist, dem Wunsch zu helfen und den Deutschen zu schaden.“

Wie so viele Nazi-Verbrecher konnte Kurt Asche nach dem Krieg unter falschem Namen untertauchen. 1955 wurde der SS-Mann, der 1.618 Juden von Belgien aus in den Tod geschickt hatte, entdeckt, als Mitläufer eingestuft und amnestiert. Erst 1981, im Alter von 72 Jahren, wurde Asche vom Landgericht Kiel verurteilt, wegen seines Alters aber nur zu sieben Jahren. Kurt Asche lebte noch viele Jahre in Freiheit und wurde 88 Jahre alt.

„Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk“, heißt es im Talmud. Für viele belgische Bürger wurde dieser Spruch während der deutschen Okkupation zum Leitmotiv ihres Handelns. Durch Schreibers Buch werden ihr Mut und ihre Hilfsbereitschaft nun endlich auch in Deutschland bekannt gemacht und gewürdigt.

Marion Schreiber: „Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz“. Aufbau Verlag, Berlin 2000, 352 S., 39,90 DM (20,20 €)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen