piwik no script img

Die Rückseite des Tagebuchs

■ Texte wieder ans Licht holen, Musik vom Ballast vergangener Propaganda befreien: Ziele des Kammerspiel-Plans 2001/2002

„Weißt du, wie man den deutschen Gegenwartsautoren mal vernünftiges Dialogschreiben beibringen kann?“, fragt Ulrich Waller. „Nee, keine Ahnung“, kontert Ulrich Tukur. Geschehen jüngst im Logensaal der Kammerspiele. Jedenfalls sei dieses Defizit, so das Leitungsteam, der Grund dafür, „dass wir stattdessen weiterhin lieber wichtige Autoren aus New York, Paris und London in Hamburg spielen“, wie Waller beim Spielplan-Release für die kommende Saison verkündete. Eine Saison, die allerdings diesmal nicht mit einer Premiere beginnen wird: „Denn wir wissen immer noch nicht genau, wie sich der schon länger geplante Umbau der Kammerspiele gestalten wird“, so Waller. Vielleicht sei bis dahin die eine oder andere Treppe verschwunden, „vielleicht müssen die Zuschauer ja per Feuerleiter zu ihren Plätzen klettern. Wir hoffen jedenfalls das Beste“.

Die erste „echte“ Premiere der nächsten Spielzeit wird jedenfalls erst Anfang November nach (hoffentlich abgeschlossenem) Umbau stattfinden: in Proof/Der Beweis von David Auburn – einer amerikanischen Familiensaga, die sich mit der makaberen Grenzziehung zwischen (mathematischem) Genie und (alzheimerschem) Wahnsinn befasst – wird unter anderem ein Familiengeheimnis gelüftet, das das Beziehungsgeflecht gründlich zerstört.

Nicht verlöschende Erinnerungen stehen im Zentrum von Martin Shermans Rose, in dem eine 80-jährige Holocaust-Überlebende einsam über jene sinniert, die sie zu ihrem Leidwesen überlebt hat und die sie heimat- und beziehungslos zurückgelassen haben.

Die verschwiegenen Facetten der Anne Frank sucht ein Abend an die Gegenwart zu holen, der sich der „Rückseite“ des Tagebuchs widmet: Schriftstellerische Versuche des Mädchens werden sichtbar, mit denen sie sich aus der Enge des Prinsengracht-Verstecks hinauszuschreiben versuchte. Tagebuchtexte und Prosastücke hat Ulrich Waller für einen von Caroline Ebner wesentlich mit gestalteten Abend zusammengestellt, der ein markantes neues Porträt der jungen Dichterin schafft.

Verborgenes – Verantwortung, Schuld, Kontrolliertwerden und Sich-Rechtfertigen für vergangene (Un-)Taten – prägen den Text Purgatory des in Argentinien geborenen, inzwischen in den USA lebenden Ariel Dorfman: In einem kargen Raum lässt er ein Paar in einer Abrechnung aufeinandert reffen, in der Schuldzuweisungen, Rollen und Perspektiven ständig wechseln. Gewissheit bezüglich der Letztgültigkeit moralischer oder psychologischer Kriterien trägt letztlich niemand davon.

Wiederbelebung und die Befreiung von ideologischem Miss-brauch der Vergangenheit haben sich Ulrich Tukur und sein kleines Swing-Orchester für den Abend Lieder am Abgrund zum Ziel gesetzt: Unterhaltungsmusik aus den Jahren 1939 bis 1945 wollen die Akteure in einen neuen Zusammenhang stellen, unter anderem auch deshalb, weil die Lieder damals durchaus „leise Fluchten“ inmitten der laut tönenden Nazipropaganda waren. ps

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen