Die Aufarbeitung der Geschichte beginnt

In Serbien werden sich nach der Auslieferung Milošević’ mehr Zeugen als bisher bereit finden, über die Kriegsverbrechen auszusagen

Das Datum der Auslieferung von Slobodan Milošević ist höchst symbolträchtig. Am 28. Juni jährte sich die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, die heute für das nationale Bewusstsein Serbiens konstitutiv ist. Milošević’ Aufstieg ist untrennbar mit diesem Tag verbunden. Wie damals stehe Serbien erneut vor großen Schlachten, sagte der damalige serbische KP-Chef vor hunderttausenden von Zuhörern bei der 600-Jahr-Feier am 28. Juni 1989. Mit dieser Rede mobilisierte Milošević die serbischen Nationalisten für die Kriege in Kroatien, in Bosnien und im Kosovo.

Dass Premierminister Zoran Djindjić den Ausschlag für die Auslieferung Milošević’ gegeben hat, verwundert nicht. Djindjić war einer der intellektuellen Kritiker Miloševićs, die nach den Feierlichkeiten vom 28. Juni 1989 vielfältigen Repressionen ausgesetzt waren. Anders als viele von ihnen verließ er das Land während der darauffolgenden Kriege nicht. Als Kritiker der „totalitären und antidemokratischen Politik“ des serbischen und später jugoslawischen Präsidenten Milošević gewann er allmählich hohes Ansehen in Belgrad und im Westen.

Dass jetzt die Anhänger des alten Staatschefs demonstrieren und Djindjić am liebsten lynchen würden, war zu erwarten. Djindjić wusste um das Risiko. Auf seine Weise riskiert er sein Leben, um Serbien wieder eine Chance auf der internationalen Bühne einzuräumen. Negativ wird aber an ihm haften bleiben, dass er sich mit seiner Regierung über die Entscheidung des höchsten Bundesgerichts hinwegsetzte. Die Richter hatten jenes Dekret außer Kraft gesetzt, das die Auslieferung Milošević’ ermöglichen sollte.

In Belgrad ist nun deswegen eine Regierungskrise ausgebrochen. Gewonnen haben aber schon jetzt jene, die seit 1989 Opfer der Politik von Slobodan Milošević geworden sind. Sollte UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte ihre Versprechen verwirklichen und nicht nur die Verbrechen im Kosovo, sondern auch die in Bosnien und Herzegowina zum Gegenstand ihrer Anklage machen, würde die Aufarbeitung der Vergangenheit in Bosnien und in Serbien einen weiteren Anstoß erhalten. Es geht um den Tod von über 200.000 Menschen, um den Aufbau von Konzentrationslagern in Omarska, Manjaca, in Brcko und Foca und natürlich um das Massaker von Srebrenica.

Schon jetzt ist abzusehen, dass sich nach der Auslieferung Milošević mehr Zeugen als bisher bereit finden werden, über Kriegsverbrechen auszusagen. Dass ein Fahrer von Leichentransporten aus dem Kosovo schon sein Schweigen gebrochen hat, ist nur ein Beispiel. Auch andere, die mit der Beseitigung der Spuren von Kriegsverbrechen zu tun hatten oder auf andere Weise Zeugen von Verbrechen wurden, werden sich jetzt melden. So hoffen jedenfalls die Ermittler in Den Haag.

Die Mittäter und Mitläufer des Krieges dagegen stehen mit dem Rücken zur Wand. Und das sind nicht wenige. In den Demonstrationen von Belgrad geht es ja nicht nur um Milošević, es geht um den Zusammenbruch einer Ideologie. Selbstrechtfertigungen werden ab jetzt noch schwerer fallen als bisher. Und viele werden fürchten, eines Tages selbst vor dem Kadi zu stehen.

Allerdings sind zwei prominente mutmaßliche Kriegsverbrecher immer noch in Freiheit. Radovan Karadžić, der politische Führer der bosnischen Serben während des Bosnienkrieges, und General Ratko Mladić, Befehlshaber der serbisch-bosnischen Truppen, sind untergetaucht. Während sich Karadžić im ostbosnischen Raum Foca und Trebinje aufhalten soll, ist Mladić zuletzt vor einigen Monaten in Belgrad gesehen worden. Dass sich die beiden noch auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien aufhalten, gilt als sicher.

ERICH RATHFELDER