: Der Riese hinter uns
■ Beethovens „grässliche“ Neunte in der Glocke
Beethovens Neunte: Domkantor Wolfgang Helbich will sich nun auch einmal selbst interpretatorisch dem bis heute formal und inhaltlich riesigen Werk nähern. Der internationale Interpretionsstand ist gerade für dieses Werk, das nach seiner Uraufführung 1823 - „empörend“, „gräßlich“, „ungeheuerlich“ meinten die Zeitgenossen - lange Zeit für unspielbar gehalten wurde, heute derartig hoch, dass sich gerade ein erfahrener und erfolgreicher Chorleiter wie Helbich gegen ein solches Aufführungsprojekt aussprechen müsste.
Wenn da nicht Wunsch und zugleich Auftrag des „Tokyo Metropolitan Freude Choir“ gewesen wären. Dieser wollte nämlich seine Beethovenbegeisterung auch einmal in Deutschland präsentieren und so kam das Projekt wider erwarten, zusammen mit dem Bremer Domchor und Helbichs „Hausorchester“, der Kammer Sinfonie Bremen, zustande. Beethovens Neunte hat jedenfalls ihren Schatten über das gesamte sinfonische Schaffen des neunzehnten Jahrhunderts geworfen: „Wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“ fragte Franz Schubert. Ähnlich empfanden das Johannes Brahms, der „den Riesen hinter sich lassen“ wollte, und auch noch Anton Bruckner. Gerade vor diesem Hintergrund überzeugt die interpretatorische Idee Helbichs: weg vom Silvesterjubelplüsch wählte er gute Tempi, sorgte für Transparenz und dramaturgische Dichte. Und dass man natürlich die Überforderung ständig hörte, ist ja auch gar nicht so falsch in einem Werk, das schwankt zwischen idealistischer Hoffnung und tiefer Resignation, zwischen Sinfonie und Kantate, zwischen Konvention und deren permanenter Sprengung, lehrt uns noch heute Wesentliches über den Umgang mit der eigenen Utopie, über die Erfahrung ihrer Zerstörung. Denn der „Freudenjubel“ des letzten Satzes - nach dem Text von Friedrich Schiller - macht deutlich , dass Beethoven nach dem Verrat der Ideen von 1789 genau an diese Freiheit und diese Gleichheit nicht mehr glaubte, schon mal gar nicht mehr daran, daß über den „Sternen ein lieber Vater wohnt“: in verzweifelter Höhe schreien es die Soprane. Und besonders deutlich meißelte Helbich einen Edelstein in den „Trümmern“ des Schlußsatzes heraus: die mahnende Straßenrevolutionsmusik als Einbruch in die Friedens-, Freiheits- und Gleichheitsapotheose.
Gleichwohl konnte nicht darüber hinweggehört werden, dass die verzweifelten Anstrengungen aller doch recht häufig ihre Konturen verloren, ganz besonders im Scherzo, das vollkommen aus den Fugen geriet. Das Solistenquartett hat in dieser Sinfonie eines der undankbarsten Partien, die es überhaupt gibt: Schwerstes zu singen ohne die entsprechende Wirkung.
Bei Helen Bickers, Yasuko Kojima, Arnold Bezuyen und Kijoshi Kojima trat anstelle einer überzeugenden Homogenität eher ein rastloses Durchhalten. Halten wir fest: es ist gut gegangen - mit ständiger Offenlegung der Grenzen. Schön für Helbich, auf welchen Lokalpatriotismus er sich stützen kann: anhaltende Ovationen in der halbvollen oder halbleeren Glocke.
Ute Schalz-Laurenze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen