Demokratisch und gesellig

Thomas Welskopps Studie über die Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung belegt: Karl Marx wurde persönlich geschätzt, doch seine Theorie setzte sich nicht durch – da sie mit der Lebenswelt zu wenig zu tun hatte

„Aber Herr Wilhelm [Liebknecht] wollte demokratischen Kohl.“

Diese Kritik formulierte 1868 Karl Marx an der sozialdemokratischen Programmatik – ohne Erfolg: Nicht sozialistisch, sondern radikaldemokratisch gebärdeten sich die deutschen Sozialdemokraten in ihrer Frühphase.

So deutlich wie Thomas Welskopp in seiner grundlegenden Studie zur Frühgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung hat bisher kein Autor diesen ideologischen Gegensatz herausgearbeitet. Seine Habilitationsschrift ist jedoch weit mehr als eine Arbeiterbewegungsgeschichte. Auf beinah 800 Seiten, die dem Leser des Öfteren etwas Geduld abverlangen, breitet Welskopp ein Spektrum an „milieutheoretischen, kulturhistorischen, geschlechter- und mentalitätsgeschichtlichen“ Fragestellungen und Analysen aus, um seinen Untersuchungsgegenstand „als Bestandteil der deutschen Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts“ begreifbar zu machen.

Welskopp zeigt, dass die soziale Struktur der Mitglieder der Arbeitervereine eine überraschende Kontinuität zwischen 1848 und 1870 aufwies. Die Unterschiede zwischen normaler und aktiver Mitgliedschaft blieben auffallend gering, die soziale Distanz zwischen Basis und Elite ebenso.

Es dominierten Handwerker und Kleingewerbetreibende aus den Städten. Die größte Gruppe stellten die Gesellen, gefolgt von Meistern und anderen Gewerbetreibenden. Anteilsmäßig gering, aber einflussreich waren junge bürgerliche Intellektuelle und Revolutionsveteranen radikaldemokratischer Prägung. In die noch weitgehend patriarchalisch bestimmten ländlichen Lebenswelten konnte die frühe Arbeiterbewegung nicht eindringen. Auch Fabrikarbeiter wurden selten gewonnen. Der „prototypische Lohnarbeiter im Marx’schen Sinne“ war demzufolge kaum vertreten. Die Frage, wie sich bei dieser „berufsübergreifenden politischen Identität und starken beruflichen Heterogenität“ ein identitätsstiftendes Milieu herausbilden konnte, leitet über zur Organisationsstruktur der frühen deutschen Sozialdemokratie.

Welskopp zeichnet die soziale Praxis im Verein, in Versammlungen, bei Kongressen, Feiern, Festen und Abendunterhaltungen sowie die Rede- und Debattenkultur in all ihren Facetten nach. Es gelingt ihm auf eindrucksvolle Art zu zeigen, wie bei den frühen Sozialdemokraten, die stark durch die männerbündischen Ideale der Gesellenkultur geprägt waren, „politische Aktivität und Geselligkeit“ eins wurden. In den Vereinen und Versammlungen wurde eine komplette soziale „Gegenwelt“ geschaffen, die den Bedürfnissen der Mitglieder nach Sinnstiftung, Identität und Anerkennung weitgehend entsprach. In dieser „Kunstwelt“ konnte sich die milieubildende Kraft entwickeln, die die unterschiedlichen Trägergruppen der Arbeiterbewegung erst zusammenführte. Dadurch wurde zugleich ein Mobilisierungs- und Modernisierungspotenzial freigesetzt, dem die politischen Gegner aus dem bürgerlich-liberalen und konservativen Lager nur wenig entgegenzusetzen wussten.

Welche Rolle spielte die Ideologie in der frühen deutschen Sozialdemokratie? Das „Marx’sche Theorieangebot“ war anfänglich keineswegs der maßgebende Wegweiser. Es existierte auch kein marxistisches „Theoriemonopol“. Der Einfluss der Ideologien bestimmte sich nicht durch deren Überzeugungskraft, sondern durch Praxisrelevanz, also durch die Nähe zur Lebenswelt der sozialdemokratischen Mitglieder. Trotz aller Verehrung, die Marx persönlich in der Arbeiterbewegung genoss, seine Theorie besaß nur geringe Durchschlagskraft. Die Beschäftigung mit ihr war selektiv, distanziert und „eigentlich folgenarm“.

Das sozialdemokratische Weltbild orientierte sich an „echter Individualität“ und „freiwilliger Assoziation“. Die frühe Arbeiterbewegung war keineswegs eine kollektivistische Bewegung. Erst spät nahm sie ihren – dann durchaus eigenen – Weg in eine staatssozialistische Utopie. Doch bis in die 1870er-Jahre blieben radikaldemokratische Visionen und Positionen „jeder Konzeption von Sozialismus zeitlich und sachlich vorgelagert“.

Welskopp ist eine beeindruckende, begrifflich präzise und in großen Teilen anschauliche geschriebene Geschichte der frühen deutschen Arbeiterbewegung gelungen. Seine historisierende Neuinterpretation bietet eine Fülle von neuen Erkennissen und Einsichten. Einige seiner Schlussfolgerungen werden in der Forschung Widerspruch provozieren. Seine Hoffnung, „die Debatte in der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte ein Stück“ wieder zu beleben, wird sich deshalb erfüllen.

VOLKER JARREN

Thomas Welskopp: „Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz“, 840 Seiten, Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2000, 128 DM (65,45 €)