: Illegitimes Vergnügen
Moorhuhnjagd, Siedler, Age of Empires: Bei der Computerspielerei explodiert die menschliche Erfindungsgabe. Ein Erfahrungsbericht
von DIRK KNIPPHALS
In seinem Roman „Alles was zählt“ beschreibt Georg M. Oswald, wie sein Held, bevor er sich seiner Arbeit als „stellvertretender Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung“ (sprich: als Geldeintreiber einer Bank) zuwendet, regelmäßig erst einmal ein Level des Computerspiels „Virtual Corporation – Der gnadenlose Wettlauf um die Führungsspitze“ durchspielt. Der Erzähler erläutert: „Dieses Spiel wurde auf Anordnung der Geschäftsleitung auf jedem PC im Haus installiert. Die Mitarbeiter sollen es spielen, zur Stärkung ihres Durchsetzungsvermögens. Damit sie auch noch reale Arbeit leisten, ist das Spiel so programmiert, dass es sich nach einer Viertelstunde von selbst abschaltet.“
Ein durchaus realistisches Szenario, zumindest in der Hinsicht, dass ein Viertelstündchen Computerspielerei längst zum normalen oder normalsubversiven Verhalten unserer Beamten und Angestellten zu zählen ist. Dass die Geschäftsführungen selbst die Spiele installieren, ist allerdings noch Zukunftsmusik. Aber es gibt ja „Solitär“, die viel genutzte Patiencensimulation. Und es gibt die Moorhuhnjagd – ein Spiel, bei dem man auf grotesk aussehende Vögel vor der Kulisse des schottischen Hochlands schießt; zwölf Millionen Nutzer haben es sich auf ihre Festplatten geladen; es müssen unzählige Firmen- und Behördencomputer darunter sein.
Programme, die etwa die Festplatten von Behördencomputern nach dort installierten Spielen absuchen oder die Installation von Spielprogrammen unmöglich machen, sind längst auf dem Markt. Aber nicht nur die Arbeitgeber, auch die Arbeitnehmer haben inzwischen im Kampf um die Computerspiele echte Trümpfe in der Hand. Die aktuelle Version der Moorhuhnjagd verfügt über einen so genannten Boss Key: Mit seiner Hilfe kann der Nutzer im Fall eines nahenden Chefs die Moorhühner in Sekundenbruchteilen von seinem Bildschirm verschwinden lassen.
Die einschlägigen Fachzeitschriften haben für solche Art Programmierkünste im besten Fall milden Spott übrig. Die Zeitschrift GameStar veröffentlichte kürzlich auf ihrer Satireseite die Bauanleitung eines ganz realen Moorhuhnmobiles aus Schnüren und Pappe, auf das man nach dem Zusammenbau bequem von seinem Arbeitsplatz mit Papierkrampen schießen könne. Will sagen: Für diese Kindereien wäre ein ausgewachsener Computer doch gar nicht nötig.
In der Tat. Es gibt natürlich sehr viel komplexere, ausgetüfteltere, schrägere, verblüffendere Spiele als die simplen Kartenspiel- oder Jagdsimulationen, mit denen sich unsere Angestellten die Arbeitszeit vertreiben. Selbst der begrenzte Einblick, den ich in den vergangenen vier Jahren erworben habe, lässt nur den Schluss zu, dass bei der Computerspielerei die menschliche Erfindungsgabe gerade explodiert. Während sich der größte Teil der Bevölkerung immer noch nichts unter solchen Spielen vorstellen kann, entstehen auf der anderen Seite bei einigen Spielen wie „Counterstrike“, „Unreal Tournament“ oder „Team Fortress“ gerade die Strukturen für Bundesligen. Auch in dieser Hinsicht differenziert sich unsere Gesellschaft aus.
Meine eigene Karriere in der Computerspielerei verlief ganz banal. Natürlich habe ich früher einmal dieses simple Pingpongspiel mit den zwei Rechtecken als Schlägern und dem einen Punkt als Ball gespielt. Vielleicht zwei-, dreimal bin ich bei einem Bekannten jeweils eine Nacht vor dem Computer versackt, indem ich ein frühes Strategiespiel spielte – den Namen habe ich vergessen. Irgendetwas hatte das Spiel mit der Hanse zu tun, und im Wesentlichen sah man eine hübsche Seekarte sowie Zahlenkolonnen, die steigen oder fallen konnten.
Das war's für lange Zeit gewesen. Irgendwann dann hatten wir uns einen privaten Rechner gekauft, und eines Tages fand ich mich verblüfft in der Softwareabteilung eines technischen Kaufhauses wieder. Mir fehlte noch jede ordnende Begrifflichkeit, selbst die simple Unterscheidung zwischen Baller- und Strategiespielen war mir nicht vertraut, und so war das Angebot schier unübersehbar. Die Computersimulation des Strategiespiels „Risiko“ fiel mir auf. Mit diesem Spiel, bei dem man mit Würfelglück und etwas taktischem Geschick Kontinente erobern kann, hatte ich in der späten Schulphase mit Freunden manche Nacht durchgezockt. Ich kaufte also die „Risiko“-CD-ROM und spielte wieder ein paar Nächte durch, diesmal allein vor einem Bildschirm sitzend, ins zähe Ringen mit der künstlichen Intelligenz um Länder, Kontinente und die Welt versunken.
Lange währte diese Phase nicht. Dieses Spiel funktionierte tatsächlich nur als Ersatz für fehlende Mitspieler aus Fleisch und Blut. Und es entwickelte kein Eigenleben. Das war bei dem Spiel namens „Siedler“ anders. „Siedler“ gehört zu den am meisten verkauften Computerspielen überhaupt, und der Unterschied zu Brettspielen ist evident: Man führt oder zieht hier keineswegs seine Figuren, diese folgen vielmehr ihren eigenen Antrieben, in die man als Spieler nur bis zu einem gewissen Grad eingreifen kann. Man fungiert gleichsam als Weltenlenker im Hintergrund.
Beispielsweise kann man eine Figur per Mausklick zu einem Fischer erklären. Die kleine, niedlich animierte Figur wird auf dem Bildschirm losmarschieren, sich eine Angel greifen, zum Wasser wandern und fischen. Hat man für sie einen günstigen Ort gewählt, wird sie Fische fangen und diese an der Fischerhütte ablegen. Dann wird sie weiterangeln. Eine andere Figur, ein Träger, wird von selbst herannahen, den Fisch aufheben und dorthin tragen, wo er nützlich ist, beispielsweise in eine Eisenerzmine. Von dort wird der Träger von einer weiteren Figur Eisenerz übernehmen und es zu einer Gießerei tragen. Ist neben dem Eisenerz auch Kohle vorhanden, die gefördert werden muss, wird eine weitere Figur Eisenbarren gießen. Ein anderer Träger wird diesen Barren zu einer Schmiede tragen, wo eine Schmiedfigur bereitsteht, um daraus Waffen oder Werkzeuge herzustellen, beispielsweise eine Angel.
Kurz: Man muss als Spieler Warenlieferungen und Herstellungsketten organisieren. Man muss gute Standorte für die Erze finden, genug Nahrung für die Arbeiter anbauen, das optimale Verhältnis von Trägern und Handwerkern herausfinden, und schließlich muss man, da das Ganze in Konkurrenz zu den anderen, von der Computerintelligenz organisierten Siedlerdörfern geschieht, Soldaten mit Schwertern oder Speeren bewaffnen, zur Verteidigung Türme oder Burgen errichten; und irgendwann muss man mit diesen Soldaten in den Kampf ziehen.
Das alles sind Tätigkeiten, die sich bei Brettspielen nur symbolisch repräsentieren lassen. Bei „Siedler“ aber kann man seinen Figuren beim Hausbauen zusehen, und es erfüllt einen – wirklich! – mit Stolz, wenn man für genug Holz, Steine und Werkzeuge gesorgt hat, damit die kleine Baustelle auch bestens funktioniert. Auf der anderen Seite ist die Verzweiflung groß, wenn man etwas übersehen hat und etwa die Schwertproduktion gerade zu dem Zeitpunkt zum Erliegen kommt, in dem der Gegner sich zum Angriff entschließt. Ich habe mich in solchen niederschmetternden Momenten schon dabei beobachtet, Scham gegenüber meinen Geschöpfen empfunden zu haben.
Irgendwann, so geht die Laufbahn meiner Computerspielerei weiter, hatte ich „Siedler“ über. Das lag an den doch ein wenig zu knuffig gezeichneten Figuren und an dem sich auf die Dauer wiederholenden Spielaufbau. Inzwischen habe ich mit Hilfe anderer Spiele in sich geschlossene Warenkreisläufe bereits im Weltall, bei den alten Römern, in der Zukunft, unter Wasser und in der Fantasyzone einer unterirdischen Höllen- und Kerkerwelt errichtet. Moorhuhnjagden und die avancierteren Ballerspiele, die sich inzwischen bis zu komplett nachspielbaren James-Bond-Szenarien gemausert haben, sind mir fremd geblieben. Der Fantasy- und Esoteriksektor, der sich in unzähligen animierten Magie- und Zauberwelten manifestiert, sowieso. Auch Flugsimulationen, die längst komplette Weltraumschlachten ermöglichen, lassen mich kalt: zu schnell.
Ich möchte kleine, von mir geschaffene und umsorgte Figuren über den Bildschirm wieseln sehen. Vielleicht wird man ja bald beim ersten Date nicht nach dem Sternzeichen, sondern danach gefragt, was für ein Spieltyp man sei. Und ich werde sagen müssen: der Demiurgentyp. Ob das klug ist?
DIRK KNIPPHALS, 37, ist Kulturressortleiter der taz. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags für den „Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“
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