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Die Systeme schlagen durch

Jan Ullrich und Lance Armstrong haben ähnliche Erfahrungen hinter sich, auf ihr Wirken als Sportler aber hat sich das völlig verschieden ausgewirkt. Genau das könnte die Tour de France entscheiden

von SEBASTIAN MOLL

Unterschiedlicher könnten die beiden Favoriten für die heute mit dem Prolog beginnende Tour de France kaum sein. Keinen Zweifel ließ Lance Armstrong im Saisonverlauf daran aufkommen, dass er die Hegemonie über Frankreichs Landstraßen beansprucht und dass er nicht vor hat, auch nur einen Millimeter vor seinem deutschen Herausforderer zurückzuweichen. Seine Renneinsätze waren jeweils Paukenschläge: Nur knapp wurde er beim holländischen Frühjahrsklassiker Amstel Gold Race im Sprint geschlagen, bei der Tour de Suisse in der vergangenen Woche deklassierte er die gesamte Konkurrenz. Ganz anders Ullrich, der sich beim Giro d’Italia im Mittelfeld abrackerte und mit eineinhalb Stunden Rückstand 52. wurde. Trotzdem, gab er danach zu verstehen, sei er froh gewesen, sich der Schinderei unterzogen zu haben. Das Wissen um die abgearbeiteten Höhenmeter und Kilometer stärke sein Selbstvertrauen. Dabei wirkte er wie ein Schüler, der brav seine Hausaufgaben gemacht hat – und keineswegs wie einer, der mit Herzblut an etwas Großem arbeitet.

Der Temperamentsunterschied zwischen den beiden ist erstaunlich,vor allem wenn man bedenkt, wie viele Parallelen ihre Biografien aufweisen. Angefangen beim Elternhaus. Sowohl Armstrong als auch Ullrich hatten eine sehr enge Beziehung zu ihren Müttern und so gut wie keine zu ihren Vätern. Der Amerikaner schreibt in seiner Autobiografie über seinen leiblichen Vater: „Er hatte überhaupt keine Bedeutung für mich – es sei denn, man hält seine Abwesenheit für bedeutsam.“ Jan Ullrich, knapp und distanziert: „Meinen Vater habe ich 1993 zum letzten Mal gesehen. Als ich ihn brauchte, war er nicht da.“ Frau Armstrong und Mama Ullrich hingegen waren die größten Förderer ihrer Söhne. Dass etwas aus den Buben wird, war für die starken alleinerziehenden Frauen entbehrungsreiche Lebensaufgabe.

Eine weitere auffällige Parallele im Leben der beiden Champions ist, dass sie im Abstand von nur einem Jahr jeweils eine tiefe Sinnkrise ereilt hat. Schlimmer noch als der Kampf gegen den Krebs selbst, so Armstrong, sei die Zeit danach gewesen: Er versuchte wieder zu trainieren, doch der Körper war noch zu schwach und die Rückfallwahrscheinlichkeit zu hoch. So war er zum Nichtstun verdammt und sah zugleich einer ungewissen Zukunft entgegen: „An einem Tag plante ich mein Comeback, am nächsten Tag erklärte ich meinem Manager, meine Karriere sei beendet. Ich wusste nicht mehr, was ich wollte und wer ich war.“ Ein Jahr später, während Armstrong zu seinem ersten Tour-Sieg fuhr, saß Ullrich zu Hause in Merdingen und quälte sich mit ähnlichen Gefühlen. Ein Sturz hatte seine Tour-Teilnahme vereitelt, nun hing er Gedanken um Sinn und Unsinn seiner Profi-Karriere nach. Ganz nahe am Aufhören sei er da gewesen, gab er später zu.

Erstaunlich ist bei aller Parallelität der Lebenslinien indes, wie unterschiedlich die beiden Radsportheroen aus ihren Krisen hervorgegangen sind. Als Armstrong zu spüren begann, dass ihn sein Körper wieder siegen lässt, verlieh ihm diese Aussicht ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Mehr noch als Sportler mit einer geradlinigeren Karriere fing er an, an die eigene Auserwähltheit zu glauben, an jene halbgöttischen Attribute, die Sportheroen in der Mediengesellschaft zugeschrieben werden. Ganz anders Ullrich: Für ihn scheint das Wiederannehmen der Starrolle nach der Krise eine Art Vertrag auf Zeit mit der Öffentlichkeit zu sein. Er befinde sich in der zweiten Karrierehälfte, erklärte der 27-Jährige bisweilen, das Ende sei mithin schon am Horizont erkennbar.

Ein solcher Mentalitätsunterschied lässt sich eigentlich nur durch den Unterschied der Systeme erklären, in denen die beiden aufgewachsen sind: Mit 13 verließ Ullrich sein unvollständiges Elternhaus und lebte fortan in der Geborgenheit der Kinder- und Jugendsportschule. Vor allem das Kollektiv wurde hier groß geschrieben. Ebenso wie nach der Wende, als sein Trainer und Erzieher Peter Becker mit der kompletten KJS-Truppe um Ullrich nach Hamburg zog, um dort als RSG Hamburg Radrennen zu fahren und ansonsten die sozialistischen Erziehungsideale weiterzuführen. Im krassen Gegensatz dazu steht die Sozialisierung von Armstrong. Schon mit 16 hatte er die fehlende Vaterfigur ersetzt und trug maßgeblich zum Auskommen der Restfamilie bei: „Ich war zur nationalen Triathlon-Hoffnung Nummer eins geworden und verdiente 20.000 Dollar im Jahr.“ Schon früh war der Amerikaner daran gewöhnt, seine Geschicke selbst zu lenken. Der weitere Weg muss auf Armstrong und seine Fans wirken wie der Beweis für die amerikanische Ideologie von der Unbeugsamkeit des Individuums.

Dass es Armstrong nicht satt wird, an dieser Legende weiterzuspinnen, liegt vor diesem Hintergrund auf der Hand. Dass dem kollektiv erzogenen Ullrich das Darstellen der Einzigartigkeit eher unangenehm ist, ebenfalls. Armstrong kann kaum auf die Tour warten. Ullrich ist froh, wenn sie wieder vorbei ist.

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