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„Fischl, nimm uns von hier mit hinaus“

Ein Überlebender des Ghettos Pinsk sucht seinen Retter und berichtet lakonisch die Geschichte seines Überlebens

Im Jahr 1996 bat Pjotr Rabzewitsch aus Kiew zwei Mitarbeiter des Freiburger Maximilian-Kolbe-Werkes um einen außergewöhnlichen Gefallen. Sie sollten ihm helfen, einen ehemaligen deutschen Soldaten zu finden: seinen Lebensretter.

Rabzewitsch, 1923 als Eruchim-Fischl Ruwinowitsch Rabinow geboren, wurde als Dreizehnjähriger von seinen Eltern nach Pinsk geschickt, einem Ort, in dem damals mehrheitlich Juden lebten. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges marschierten dort erst sowjetische Truppen ein, ehe die Deutschen im Juni 1941 die Sowjetunion angriffen und auch Pinsk besetzten. Anfang August dann ein Befehl: Die Juden mussten sich zur Arbeit melden. Hunderte gingen hin. Sie wurden auf einen Acker geführt und erschossen. Wenig später der gleiche Befehl, aber nun ging niemand mehr hin. Daraufhin wurden die Juden mit Waffengewalt aus den Häusern geholt. Während Rabinow auf der Toilette saß, führten Soldaten seine beiden jüngeren Brüder ab: die ersten beiden Todesopfer der Familie. In diesen Tagen wurden über sechstausend Pinsker Juden ermordet. Die Überlebenden mussten in das Ghetto ziehen.

Rabinow, der als Techniker gearbeitet hatte, wurde von der Wehrmacht übernommen. Und dort erlebte er das Wunderbare: Sein neuer Chef, Sonderführer Günther Krüll, will ihn retten. Der junge Ingenieur aus Berlin hatte zuvor schon einmal geholfen: Zwei Juden konnten mit seiner Hilfe aus Deutschland fliehen. Nun soll der befreundete Unteroffizier Frühauf in Kiew Rabinow zur Arbeit anfordern: als Russen. Bis die Papiere eintreffen, versteckt Krüll Rabinow in seinem Schlafzimmer, fast einen Monat lang: Dann wird aus dem Juden Rabinow der Russe Rabzewitsch, der in Kiew bis zur Befreiung durch die Rote Armee überlebt. Nur einmal noch hat er seinen Retter gesehen: Im Sommer 1943, nach telefonischer Ankündigung, auf der Straße. Krüll winkte ihm von der anderen Straßenseite zu, dann ging er weiter.

Günther Krüll soll sich nach dem Krieg oft gefragt haben, ob Rabzewitsch überlebt habe. Er hat es nicht mehr erfahren. 1979 bereits ist er gestorben. Nachdem die Mitarbeiter des Maximilian-Kolbe-Werkes seine Witwe gefunden hatten, wurde Günther Krüll 1999 posthum von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Dafür hat Pjotr Rabzewitsch gesorgt. Werner Müller hat die Lebensgeschichte von Pjotr Rabzewitsch nach dessen ebenso anschaulichen wie lakonischen Erzählungen aufgeschrieben. Dabei bewahrt er dessen Duktus – und das macht den großen Wert des Buches aus. Wir erfahren viel über das jüdische Leben in Ostpolen und noch mehr über das bedrückende Leben im Ghetto, in dem alle wussten, dass man sie ermorden würde: „Die kleinen Kinder sagten immer wieder zu mir: ‚Fischl, nimm uns von hier mit hinaus, die Deutschen werden uns erschießen.‘ “

PETER STEINKAMP

Werner Müller (Hg.): „Aus dem Feuer gerissen“. Dittrich Verlag, Köln 2001, 295 Seiten, 36 DM (18,41 €)

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