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Europa im Bann der USA

Wieder einmal macht man sich auf beiden Seiten des Atlantiks Sorgen über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Ein gewisses Maß an Irritationen im transatlantischen Verhältnis gehört zum unvermeidlichen und zum Teil sogar erwünschten Maß an strittiger Auseinandersetzung über die gemeinsamen Interessen. Doch es gibt Anzeichen, dass die veränderte weltpolitische Lage nach dem Ende der Blockkonfrontation und im Zuge einer sich beschleunigenden Globalisierung von den USA und der EU unterschiedlich wahrgenommen wird. Die gemeinsame Willensbildung mag nach 1989 weniger notwendig erscheinen – doch ist sie schwieriger geworden. Die Tiefenschichten der politischen Kultur in den USA und in der EU machen sich stärker bemerkbar.

Kern des transatlantischen Problems ist aus US-Sicht weniger das starke und hegemoniale Amerika, sondern das schwache, zumeist nicht einige Europa. Überspitzt: Dort, wo die USA einen starken europäischen Partner suchen, herrscht europäische Dissonanz, dort, wo sich die Europäer einig sind, stehen sie oft im Widerspruch zu den USA.

Mit dem „sui generis“-Charakter der EU, einerseits als Union, andererseits als Gruppierung unterschiedlicher Nationalstaaten aufzutreten, tun sich die USA schwer. In ihrem Unverständnis durch die halbjährlichen EU/US-Gipfelbegegnungen im Troikaformat mit ständig wechselnder Besetzung auf europäischer Ebene bestärkt, halten sich die USA, wenn es darauf ankommt, an die (großen) Mitgliedstaaten der EU und im Bündnis. Den Hybridcharakter der EU – mehr als ein Staatenbund, aber weniger als ein Bundesstaat – nehmen die USA als Uneinigkeit und Kraftlosigkeit europäischen außenpolitischen Handelns wahr. Dabei übersehen sie, dass die Europäische Union keine Führungs-, oder Hegemonialstrukturen kennt, ja sogar institutionell auf Gleichheit und Gleichrangigkeit, auf Konsens und Ausgleich der Interessen (und damit in der Praxis zumeist auf einen kleinen gemeinsamen Nenner) angelegt ist.

In der EU gibt es auch nicht das in der Nato dominierende Übergewicht eines Partners. Die Aufnahme von 12 und mehr neuen Mitgliedstaaten wird die EU in der Rolle als handlungsfähiger, tendenziell ebenbürtiger Partner der USA im weltpolitischen Maßstab zunächst nicht stärken. In dieser schwierigen und längeren Übergangsphase der EU-Erweiterung liegt es im Interesse der EU, sich des Selbstverständnisses der USA als europäischer Macht zu vergewissern.

Die Rahmenbedingungen der transatlantischen Partnerschaft haben sich durch den weltpolitischen Umbruch 1989/91 verändert. Die USA als einzig verbliebene Supermacht wird lernen müssen, mit ihrer völlig neuartigen Macht global verantwortlich und Ordnung stiftend umzugehen. Die größer werdende EU muss lernen, ihr wachsendes Gewicht gemeinsam geltend zu machen. Die neue republikanische Administration verstärkt einen Akzent, der schon seit einiger Zeit das außenpolitische Handeln der USA bestimmt: Immer weniger scheuen die USA davor zurück, ihre Ziele unilateral anzustreben. Dabei verstärkt sich die Tendenz, die (militärische) Macht der USA auch ohne die Zustimmung der europäischen Alliierten zu zeigen und einzusetzen. In dem Maße wie die Integration zur politischen Union fortschreitet, werden die Staaten der EU zwar in die Lage kommen, im transatlantischen Verhältnis einheitlicher und selbstbewusster aufzutreten, zugleich wird sich aber die Union auf die europapolitische Agenda konzentrieren müssen. Dem Streit um Unilateralismus versus Multilateralismus liegt die unterschiedliche Interessenlage zu Grunde. Sie kann durch regelmäßigen Dialog abgeglichen, aber durch keine schlichte Arbeitsteilung ein für allemal behoben werden.

Als Folge des Umbruchs von 1989/91 ist die Liste transatlantischer Probleme länger geworden. Traditionelle Unterschiede treten deutlicher hervor. Neue kommen hinzu. Politisch-kulturelle Unterschiede und von einander abweichende Wertehierarchien diesseits und jenseits des Atlantiks (u. a. hinsichtlich der Rolle des Staates, des Individuums, der Religions- und Meinungsfreiheit) gab es auch während des Kalten Krieges. Sie haben jedoch in Zeiten eines gemeinsamen Gegners nur wenig politische Wirkung entfaltet. Heute kommen diese Unterschiede stärker an die Oberfläche und führen dort zu Konflikten (u. a. über Todesstrafe, Scientology oder die Akzeptanz technischen Fortschritts). Wegen der gleichzeitig zunehmenden transatlantischen Verflechtung werden diese Unterschiede auch stärker und schmerzhafter wahrgenommen. Sie könnten durch den in Gang befindlichen Generationswechsel innerhalb der politischen Eliten weiter akzentuiert werden: Zum einen wird die Perzeption des jeweils anderen zunehmend durch nüchterne Kosten-Nutzen-Kalküle bestimmt (Entemotionalisierung der Partnerschaft). Zum anderen ziehen der ökonomische, aber auch der politische Aufstieg Asiens und die sich daraus ergebenden Chancen und Risiken zunehmend die jungen außenpolitischen Eliten der (auch pazifischen Macht) USA in ihren Bann.

Auch umweltpolitische Differenzen werden in den nächsten Jahren eine wachsende Rolle spielen. Unterschiedliche Auffassungen über die globale Umweltzusammenarbeit wurden in den letzten Wochen vor allem durch die harte Haltung der Bush-Administration zur Klimapolitik deutlich.

Der tiefere Grund für Besorgnisse in den USA über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) besteht darin, dass aus amerikanischer Sicht jeder Schritt in Richtung auf eine handlungsfähige europäische Sicherheitsunion die Rolle der USA in Europa verändern würde. Für die Amerikaner stellt sich dabei die Frage, ob die Nato zentrales Instrument amerikanischen Einflusses in Europa bleibt. Bezeichnend für die Verunsicherung der USA ist die Feststellung von Henry Kissinger, die ESVP-Beschlüsse von Nizza bedeuteten eine „declaration of independence“ der Europäer. Bisweilen schwingt auch der Verdacht mit, die EU könnte quasi janusköpfig als Nutznießer amerikanischer Macht (Nato, Balkan) zugleich zu ihrem Konkurrenten zumindest im westlichen Eurasien werden.

In der Debatte über Sinn und Machbarkeit einer Raketenabwehr werden wie in einem Prisma die unterschiedlichen strategischen Kulturen diesseits und jenseits des Atlantik sichtbar. Den USA geht es darum, die neuen Risiken, die Internationalismus und globales Engagement in der multinuklearen Welt des 21. Jahrhunderts mit sich bringen, für sich beherrschbar zu machen. Dagegen steht für die Europäer das Ziel der zivilen Konfliktreduktion und -vorbeugung etwa durch politische und ökonomische Einbindung, durch die Ausweitung und Stärkung internationaler Regime und Vereinbarungen (CTBT, NPT) im Vordergrund. Die Bereitschaft, dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen, ist in den europäischen Staaten deutlich höher als in den USA, wo umgekehrt ein stärkerer Wille da ist, erhebliche Ressourcen für die militärische Sicherheit bereitzustellen.

Auch im Verhältnis zu Drittstaaten wie Russland oder China zeichnen sich Differenzen zwischen Europa und den USA ab. Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Volksrepublik China bereit und langfristig auch in der Lage sein könnte, als zukünftiger politischer, ökonomischer und ideologischer Widerpart der USA in die Fußstapfen der Sowjetunion zu treten. Transpazifische Spannungen dürften sich in Zukunft deutlicher als bisher auf die transatlantische Partnerschaft auswirken.

Die EU und USA können eine von beiden Seiten angestrebte globale Weltordnung („global good governance“) nur gemeinsam erreichen, auch wenn sich ihre Ansätze und Strategien unterscheiden.

Zwei Tendenzen zeichnen sich ab: Zum einen sinkt die Bereitschaft der USA, Kompromisse zu schließen, wenn sich ihre Ziele auch anders erreichen lassen.

Im Verhältnis zwischen den USA und der EU wird sich dies zunächst dort zeigen, wo die EU „progressive“ Forderungen von Staaten der so genannten Dritten Welt unterstützt, also in den Vereinten Nationen. Im Bereich Aidsprävention und Abtreibung befinden sich die USA mit der neuen Administration jetzt in einem Boot mit islamischen Fundamentalisten und Theokratien. Dies hat es z. B. beim Thema Todesstrafe schon früher gegeben und wird zunehmend dazu führen, dass sich die USA immer weiter aus den Vereinten Nationen zurückziehen und diese als Forum an Bedeutung verlieren. Es besteht das Risiko, dass dieses Forum so entwertet wird, dass seine Bedeutung auch für die Politik der EU abnimmt. Beide, die USA und die EU, verlören so ein wesentliches Mittel vor allem ihrer Menschenrechtspolitik.

Entsprechend wächst die Neigung anderer Staaten (auch von Mitgliedstaaten der EU), sich auf Regeln und Normen ohne die USA zu einigen. Die Verträge zur Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofes sind ein Beispiel, das Klimaprotokoll könnte ein zweites Beispiel werden.

Die transatlantische Diskrepanz in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie im Bereich der militärischen Fähigkeiten bleibt eklatant. Die EU bleibt bis auf weiteres von den USA in vielerlei Hinsicht militärisch abhängig. Tatsächlich wäre eine Mischung aus europäischer Ankündigungsrhetorik – in der EU – und Zurückhaltung in der Umsetzung – in der Nato – der Sprengstoff, der zu ernsten Verwerfungen führen könnte. Will Europa als gleichberechtigter transatlantischer Partner der USA ernst genommen werden, sollte es mehr durch „Leistung“ überzeugen, weniger durch verbale Höhenflüge im Sinne einer Betonung autonomer europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Dennoch gilt: Zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gibt es ohne Zweifel Unterschiede in den Werte- und Interessenhierarchien. Die Gemeinsamkeiten sind jedoch erheblich größer. Für Alarmismus in den transatlantischen Beziehungen besteht kein Anlass: Gegenwärtig zeichnen sich weder in Europa noch in den USA gravierende gesellschaftliche Umwälzungen ab, die grundsätzliche transatlantische Konflikte auslösen könnten. Konvergierende Tendenzen dürften auch in Zukunft stärker sein als divergierende.

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