: Koalitionen reichen nicht
Die Parteien werden sich immer ähnlicher, doch die Wähler wollen Unterschiede.Und wenn Spitzenkandidaten die Inhalte verdrängen, verliert Politik ihre Legitimation
„Wer sagt, er sei nach allen Seiten offen, ist nicht ganz dicht“ – so sah Johannes Rau in den Achtzigerjahren die Bemühungen der FDP, in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig mit SPD und CDU zu schmusen. Was seinerzeit beißenden Spott hervorrief, gilt heute als Selbstverständlichkeit: Offerten und Spekulationen für Parteienbündnisse, selbst wenn ihnen die geringste inhaltliche Basis fehlt.
Der originäre Sinn von Koalitionen ist, dass die, die sich verbinden wollen, mehr Gestaltungsvorstellungen miteinander haben als mit anderen. So die sozialliberale Koalition 1969, nachdem sich die FDP des „Freiburger Programms“ von ihrem national- und wirtschaftsliberalen Kurs abgewandt hatte. So 1982, als der „Vorrat an Gemeinsamkeiten“ zwischen SPD und FDP erschöpft war und sich FDP und Union auf neoliberale Positionen eingestellt hatten. Auch die rot-grüne Koalition von 1998 war auf Grund zahlreicher gemeinsamer Positionen zwingend. Jede andere Kombination hätte bedeutet, die Grundlinien der Parteien beugen zu müssen – vom Atomausstieg bis zur Ökosteuer, von der Förderung erneuerbarer Energien bis zur Steuergerechtigkeit.
Parteien haben in einer Demokratie ihren Stellenwert, wenn sie – jede für sich – die unterschiedlichen Interessen und Werte in der Gesellschaft widerspiegeln, sie bündeln und ihnen eine programmatische Gestalt geben. Daraus entstehen die Motive, darin mitzuwirken und sie zu wählen. Wenn aber ihr politisches Gesicht austauschbar wird, verlieren sie Funktion und Anhängerschaft. Dass aber diese Funktion politischer Parteien als gestrig gilt, zeigt sich daran, mit welcher Beliebigkeit sich heute Gedankenspiele um Koalitionen verbreiten. Die Virtualisierung allen Geschehens – definierbar als Abkoppelung des Scheins von der ideellen und physischen Realität – macht vor der Politik nicht halt. Die meisten Arithmetiker neuer Koalitionen, politische Akteure oder Kommentatoren, scheren sich nicht mehr darum, ob es dafür tragfähige Gründe gibt – was dem Trend zur Marginalisierung von Parteiprogrammen entspricht, der bei den Parteien selbst erkennbar ist. Aber in den Augen der Wähler haben die Parteien immer noch verschiedene Rollen, die sie ausüben müssen – ob sie wollen oder nicht. Diese entsprechen den unterschiedlichen Wertorientierungen in der Gesellschaft. Auch wenn Parteien beliebig werden: das Gros der Wähler ist es nicht. Deshalb sind auch der Beliebigkeit von Koalitionsbildungen Grenzen gesetzt.
Dennoch gilt manchen eine rot-gelbe Koalition auf Bundesebene als erstrebenswerte Option, obwohl niemand die Frage beantworten kann, wie das angesichts der Rolle der FDP als neoliberaler Luftikus gut für die SPD sein könnte. Im Land Berlin wird vielfach eine Ampelkoalition als wünschenswert betrachtet, obwohl die FDP dort ein programmatisches Nullum ist, dem außer seinem Dogma, alle öffentlichen Funktionen zu privatisieren, nichts einfällt. Sprecher der baden-württembergischen Grünen hingegen liebäugelten im Landtagswahlkampf mit der Möglichkeit von „Schwarz-Grün“ – ausgerechnet, als die dortige CDU gegen Ökosteuer und Atomausstieg zu Felde zog. Im rot-grünen Nordrhein-Westfalen, wo es immer mal wieder wegen der unterschiedlichen Positionen zu den Staatsgeldern für die Kohle knirscht, reden Politiker dagegen einer alternativen sozialliberalen Koalition das Wort – obwohl FDP-Politiker nicht aus ökologischen, sondern aus marktpuristischen Gründen noch vehementer gegen die Kohlesubventionen agitieren als die Grünen.
Es scheint nur noch darum zu gehen, welche Parteiführer miteinander persönlich gut oder einigermaßen auskommen. Die Beispiele zeigen, wie sehr die Prozesse der Regierungsbildung und -praxis von den Programmen oder Rollen der Parteien bereits abgekoppelt sind und durch eine politische Libertinage ersetzt werden, bei der die Beteiligung an der Regierungsmacht schon als Selbstzweck einzelner Politiker gilt.
Zu diesem Muster gehört auch, dass das jeweilige Spitzenpersonal zum vermeintlich einzig Vorzeigbaren hochstilisiert wird, hinter dem sich Parteien zu verstecken hätten. Die Wahlkonkurrenten entlarven dann die jeweiligen Spitzenkandidaten als Figuren, die nur von ihrer als unglaubwürdig, zerstritten oder nicht regierungsfähig hingestellten Partei ablenken. Parteien und Fraktionen sind nicht mehr die Träger der politischen Willensbildung, sondern potenziell destruktiv, abseitig und volksfern.
Dies stimuliert die Aversion gegen Parteien und entspricht den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, dem unseligen Werk Thomas Manns aus dem Jahr 1919, mit dem dieser den geistigen Nährboden für das antidemokratische Denken in der Weimarer Republik bereiten half. Sie steht auch in der Tradition des berühmten Satzes von Wilhelm II. am Beginn des Ersten Weltkriegs: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ In diesem Sinne werden heute nicht mehr Parteien, sondern nur noch Personen gekannt. So scheint selbst Gregor Gysi zu denken, der gerne Direktkandidat zum Bürgermeisteramt in Berlin wäre, ohne sich mit Parteiballast abgeben zu müssen. Die Personenfixierung als Substitut der Parteienorientierung kommt den Eitelkeiten all derjenigen entgegen, die ihre Rolle im demokratischen Ganzen gern als ihre ausschließlich eigene Persönlichkeitsleistung erscheinen lassen. Und sei es um den Preis der öffentlichen Herabwürdigung der jeweiligen Parteibasis, die sie erst nominiert hat.
So schlittert die Demokratie leichtfertig in jene „heikelste Krise“, die der italienische Philosoph Antonio Gramsci für den Fall voraussagt, dass sich ein genereller Zwiespalt zwischen Repräsentierten und Repräsentanten herausbildet, der sich unweigerlich im Staat widerspiegeln werde. Die parlamentarische Demokratie ist ohne Parteien nicht lebensfähig und nicht krisenfest. Sie erodiert zwangsläufig, wenn Parteien diskreditiert werden oder sich selber diskreditieren. Ihnen nur noch die Rolle eines Zuteilungsmechanismus für politische Ämter zuzugestehen deformiert die Parteiendemokratie zu einem System konkurrierender Verbände von Berufspolitikern.
Die Folgen sind Mitglieder- und Wählerschwund. Es wird zunehmend schwerer, Menschen zur Mitwirkung in Parteien zu motivieren und politisches Personal für die Wahrnehmung der Parteifunktionen zu gewinnen. In einer Partei aktiv zu sein gilt schon als beschränkt gesellschaftsfähig.
Solange das nur bei einer Partei passiert, ist es nur für diese selbst gefährlich. Geschieht es, wie zu beobachten ist, bei allen gleichzeitig, dann fällt es schon kaum noch auf und hinterlässt bei den Bürgern nur noch ein antipolitisches Ressentiment. Dann wird es aber gefährlich für das ganze System, das mit der verloren gegangenen Legitimation seine Gestaltungskraft verliert. Denn dann droht die Berlusconisierung des demokratischen Verfassungsstaates – auch hier. HERMANN SCHEER
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