: Willkommen in der Neuen Mitte
Nach zwei Jahrzehnten sagen die Grünen: Wir sind angekommen. Ihr neues Programm trägt dem Rechnung. Sind sie jetzt eine Partei der Mitte?
aus Berlin BETTINA GAUS
Das muss eine schwere Geburt gewesen sein. Man ahnt, wie viele Liter Kaffee in nächtlichen Gremiensitzungen getrunken worden sind, bis die Vertreter aller Flügel der Partei Bündnis 90/Die Grünen mit der endgültigen Formulierung im Entwurf des neuen Grunsatzprogramms zufrieden waren. „Unsere Grundposition bündelt sich in einem Satz: Wir wollen die Chance der Selbstbestimmung, die ökologische Herausforderung der Nachhaltigkeit und das Eintreten für erweiterte Gerechtigkeit mit lebendiger Demokratie verbinden.“ Dafür also steht künftig die Partei. Jedenfalls, wenn dieser Satz aus der Präambel vom Parteitag im November abgesegnet wird. Woran eigentlich nicht zu zweifeln ist.
Strittig sind andere Punkte des Programms: ob Sozialversicherungen künftig steuer- oder beitragsfinanziert sein sollen, wie insbesondere das System der Krankenversicherung zu gestalten ist und ob die Grünen eine Verfassungsänderung anstreben wollen, der zufolge internationale Einsätze der Bundeswehr demnächst einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag bedürfen. Darum vor allem dürfte in den kommenden Monaten gefochten werden, und vermutlich wird die Diskussion den Eindruck erwecken, die Partei sei wieder einmal gespalten.
Dabei ist eigentlich nicht erstaunlich, dass sich die Grundsatzprogrammkommission nicht auf alle Details hat einigen können. Verwunderlich ist vielmehr, welches Maß an Übereinstimmung erzielt worden ist.
Weit weg von den Anfängen
Öffentlichkeit, politische Gegner und auch die Anhänger der Partei wissen, dass sich die Grünen weit von ihren Anfängen entfernt haben – wahrscheinlich weiter als jede andere im Bundestag vertretene Partei (trotz des Godesberger Programmes der SPD). Ganz sicher jedenfalls schneller. Der Entwurf trägt dieser Erkenntnis Rechnung: „Auch wir haben uns verändert.“ Nach über zwanzig Jahren seien die Grünen „nicht mehr die Antiparteienpartei“, sondern die „Alternative im Parteiensystem“. Nun ja, wer ist das nicht? Die Kommission führt die Veränderung vor allem darauf zurück, dass die Grünen so außerordentlich erfolgreich gewesen seien. „Themen, mit denen wir zu Beginn als Außenseiter auftraten, sind heute im Zentrum der Gesellschaft angekommen.“ Die Forderung nach ökologischer Verantwortung beispielsweise, nach Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und nach Toleranz gegenüber Minderheiten.
Die Überzeugung, heute im Zentrum der Gesellschaft zu stehen, hat Folgen. Als links wollen sich die Grünen nicht mehr verstehen, als rechts auch nicht: „Wir haben linke Traditionen aufgenommen, wertkonservative und auch solche des Rechtsstaatsliberalismus.“ Sind die Grünen – der ostdeutsche Zusatz „Bündnis 90“ geht bei Lektüre des Programms fast vollständig unter – nun also die wahre Partei der Mitte? „Wir finden heute Partnerinnen und Partner auch dort, wo vor Jahrzehnten nur Gegner waren“, steht im Programm. Das dürfte ebenso zutreffen wie die Tatsache, dass den Grünen im Gegenzug manche Partner der Vergangenheit abhanden gekommen sind. Beipielsweise in den Reihen der Globalisierungskritiker.
„Die Globalisierung ist eine Herausforderung zur Gestaltung einer nachhaltigen, freiheitlichen, demokratischen und solidarischen Welt.“ Das ist sie ganz sicher. Aber was heißt das vor dem Hintergrund, dass man das alte Rechts-links-Schema für überholt hält? „Der größte Beitrag, den hoch industrialisierte gegenüber ärmeren Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas leisten können, ist die Öffnung ihrer Märkte für deren Produkte.“ Es gibt Leute, die in diesem Zusammenhang noch ein paar andere Ideen haben. Gewiss, auch die Grünen wünschen „soziale und ökologische Mindeststandards“. Darüber hinaus erheben sie die Forderung, die Internationale Welthandelsorganisation, die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds in das System der Vereinten Nationen einzugliedern. „Mittelfristig“ – was immer darunter zu verstehen ist.
Zaghaftigkeit statt Visionen
Zwei Kernbegriffe ziehen sich durch den Entwurf des neuen Grundsatzprogramms: „Ökologie“ und „Europa“. In diesen Bereichen und bei der Forderung nach Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen – „Lesben und Schwule haben einen Anspruch auf gleiches Recht für ihre Lebensweisen und Partnerschaften“ – wird gelegentlich spürbar, dass die Verfasser auch heute noch über politisches Herzblut verfügen, das sich vergießen lässt. Im Blick auf Europa fordert die Partei eine „europäische Bürgerschaft“, die allen Bürgern der EU volle staatsbürgerliche Rechte in allen Mitgliedsstaaten bietet, und sie unterstützt den demokratischen Verfassungsprozess.
Aber selbst hier zeugt der Programmentwurf eher von Zaghaftigkeit als von Visionen. Die „Tür nach Europa“ müsse für die Türkei offen gehalten werden, heißt es – dieser Formulierung würden auch die Unionsparteien nicht widersprechen. Erkennbar wollen die Grünen alte Reizworte vermeiden. „Die Verteuerung des Naturverbrauchs soll Schritt für Schritt die Belastung des Faktors Arbeit mit Steuern und Abgaben reduzieren. Das schont die Umwelt und fördert die Beschäftigung.“ Konsequenter ist das Wort „Ökosteuer“ nie vermieden worden. Im Bereich der Verkehrspolitik findet sich kein böses Wort über Autos – nur so viel: „Nach Generationen autofixierter Politik und angesichts der neuen Verkehrsbeziehungen mit den EU-Beitrittsstaaten kann der Ausbau eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems nur in Schritten bewältigt werden.“ Auf Deutsch: Verlangt nicht zu viel, liebe Leute, und vor allem: Verlangt es nicht zu schnell.
Auch der Abschnitt über grüne Außenpolitik ist erkennbar in dem Bemühen formuliert, möglichst vielen Gruppen des politischen Spektrums gerecht zu werden. Die Stärkung von OSZE und UNO wird darin verlangt, die Rolle des Militärs soll „so weit wie möglich“ zurückgedrängt werden, die „Zivilisierung und Gewaltfreiheit der internationalen Politik“ wird als Leitbild bezeichnet, ebenso wie „eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaftsordnung“.
Zwei heikle Punkte
An einer Stelle findet sich sogar ein Satz, bei dem sich die Frage aufdrängt, ob die „realpolitischen“ Aufpasser für einen Augenblick in ihrer Aufmerksamkeit nachgelassen haben: „Die Freizügigkeit von Menschen wie die regionale Kooperation muss über die Grenzen der EU hinweg gewährleistet sein.“ Freizügigkeit für Afrikaner? Das erinnert an grüne Ursprünge. Die Prognose sei gewagt: Dieser Satz dürfte in der endgültigen Fassung wohl fehlen.
Kein noch so allgemein gehaltenes Grundsatzprogramm kann sich vollständig um heikle Punkte drücken. Auch der grüne Entwurf nicht. Eine „statthafte Ausnahme“ sei der Kosovokrieg gewesen, wenn auch „kein Präzedenzfall“. Und: „Internationale Bemühungen zur Friedensbewahrung sind in unserem Land nicht grundsätzlich umstritten.“ Sehr wahr – ebenso wenig wie irgendwo sonst auf der Welt. Wie diese Bemühungen aussehen sollen, darüber allerdings wird durchaus gestritten.
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