: Sonderschule ist keine Lösung
Integration bleibt unverzichtbar. „Schwierige“ Kinder brauchen nicht in Fördereinrichtungen zu wechseln, wenn sich die Grundschulen ihren Bedürfnissen öffnen
„Der kleine Pat, mein Onkel, war nachher nie mehr derselbe. Er wuchs weich im Kopf heran, mit einem linken Bein, das in die eine, und einem Körper, der in die andere Richtung ging. Nie lernte er Lesen und Schreiben, aber Gott begabte ihn auf eine andere Weise. Als er im Alter von neun Jahren anfing, Zeitungen zu verkaufen, war er besser im Geldzählen als der Herr Schatzkanzler persönlich.“ (Frank McCourt: „Die Asche meiner Mutter“)
Stellen Sie sich vor, Ihr neunjähriger Sohn überreicht Ihnen ein Schreiben der Schule: „Das soll ich dir von meiner Lehrerin geben.“ Sie sind verwundert. Ihr Sohn wurde also „überprüft“. Er habe Probleme, große Probleme. Als ob Sie das nicht schon lange wüssten. Mir Ihrem Mann sind Sie nicht immer einer Meinung gewesen. Er schien Ihnen manchmal zu streng und dann wieder zu nachlässig. Trotzdem, Ihr Junge war halt so: wild, manchmal unbeherrscht, im Fußball ein toller Kämpfer und ab und zu richtig hilfsbereit. Na ja, die Hausaufgaben waren eine Qual für ihn. Und nun so was. Das Schlimmste stand am Ende: „. . . empfehlen wir für Ihr Kind als besten Lernort die Förderschule . . . Selbstverständlich möchten wir mit Ihnen einvernehmlich . . . In weiteren Gesprächen und Schreiben erfahren Sie die Hintergründe.“
Die Regelschulen tun alles, um bei so genannten schwierigen Kindern vielfältige Ursachen und vor allem verheerende Auswirkungen zu beschreiben und zu konstruieren. Dies geschieht aus einem Reflex heraus, der nicht nur in Schulen zu beobachten ist: Bei Belastung muss das schwächste Glied der Kette weichen. Die Ursachen und gesellschaftlichen Bedingungen für Benachteiligung bleiben unberücksichtigt. Dabei berichten heutzutage selbst die täglichen Soaps im Fernsehen darüber: dass Alleinerziehende es schwerer haben, dass ausländische Kinder nicht nur sprachliche Probleme haben, dass gewalttätige Auseinandersetzungen in Schule und Familie zunehmen, dass die Suchtgefahr schon in der Grundschule akut ist.
Es beruhigt kaum, wenn den geplagten Eltern zum besseren Verständnis „neue“ Krankheitsbilder angepriesen werden: Hyperaktivität, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), eine Störung des sozialen Verhaltens, Neurodermitis. An Experten aus verschiedenen Fachrichtungen dafür mangelt es nicht: Zuständig sind dann Erziehungsberatungstelle, Ergotherapie, Facharzt, Hausaufgabenhilfe, teilstationäre Kindergruppe oder kinderpsychiatrische Klinik. Zur medikamentösen Unterstützung gibt es Ritalin und zur ganz speziellen Förderung die Sonderschulen.
Dabei bleiben die Argumente für die Sonderbeschulung immer gleich: „Das können wir den anderen Kindern nicht zumuten . . . Die Eltern der anderen Kinder machen Druck, die Klassen sind zu voll, nur in einer Sonderschule kann man ihrem Kind richtig helfen . . .“ Ähnlich argumentierte kürzlich, in der taz vom 14. 5., auch der Kollege Röpert. Klassisch ressourcenorientiert meinte er: Wenn die besonders begabten Kinder besonders gefördert werden, dann steht den „Behinderten“ dies auch zu. In extra dafür konzipierten Sonderschulen könne man am besten auf die Bedürfnisse und unterschiedlichen Behinderungen eingehen.
Zugegeben, Förderschulen oder Schulen für Erziehungshilfe bieten den einzelnen Kindern mehr Zeit. Dummerweise wird diese Zeit dazu verwandt, die Kinder an das heranzuführen, was sie am schlechtesten können: zu lernen und sich zu benehmen. Der Gedanke, dass über die Lernleistungen die Probleme der Kinder am besten zu bearbeiten seien, hält sich in vielen Köpfen. Mit mehr Unterbrechungen, kleineren Lerneinheiten, langsameren Lernschritten und viel Verständnis versucht das Personal letztendlich, die Lernziele der Regelschule zu erreichen.
Dass die Widerstände dieser Kinder dadurch wenig zu beeinflussen sind, hat nicht zu neuen Konzepten geführt. In Baden-Württemberg gibt es erst seit 1996 einen Bildungsplan für „erziehungsschwierige“ Kinder. Bei der Auflistung der Inhalte heißt es immer noch lapidar, Grundlage des Unterrichts in den Fächern seien die Bildungspläne der anderen allgemein bildenden Schulen. Doch auf die Rückführung in die Regelschule oder die Eingliederung in andere Institutionen ist niemand wirklich vorbereitet – mit dem Ergebnis, dass Sonderschulkinder meist auf der Sonderschule bleiben.
Jede Schulform beschäftigt sich mit „ihrer“ Klientel und verweist sogar ausdrücklich auf die FachkollegInnen: Wozu gibt es eigentlich SonderschullehrerInnen? Die Verantwortlichkeiten werden hin- und hergeschoben. Gibt es erst einmal Sonderschulen, so füllen sie sich wie von selbst: Die Anzahl der Sonderschüler richtet sich stets nach der Aufnahmekapazität dort – oder umgekehrt nach den Schülerzahlen der Regelschulen. So lautet ein Argument: „Wir dürfen keinen mehr abgeben, sonst können wir keine zusätzliche Klasse führen.“
Um diesen Automatismus zu durchbrechen, verzichtet man in Italien auf Förder- und Erziehungshilfeschulen. In Wien werden „schwierige“ Kinder nur noch begrenzt außerhalb ihrer Stammklassen unterrichtet. Die Rückführung ist konzeptionell verankert und die fachliche Begleitung gewährleistet. In Deutschland hingegen diskutieren Bildungspolitiker die Beschulung von Kindern unterschiedlicher Eigenschaften unter einem Dach immer noch wie ein rein fachliches oder konzeptionelles Problem – etwa die Frage: Wie sollen SonderpädagogInnen und „normale“ LehrerInnen zusammenarbeiten?
Tatsächlich geht es aber um die Herausforderung, Aussonderung zu verhindern. Und sie ist nicht nur eine schulische Herausforderung, sondern vor allem auch eine gesellschaftliche. Bewegung in die Sonderschule kommt nicht aus ihr heraus – Vorreiterin für moderne Konzepte ist die Grundschule: etwa mit fächerübergreifendem Arbeiten, einem Wochenplan und Phasen freier Arbeit. Diese Konzepte werden allerdings bisher nur angewandt, wenn die Kinder und Jugendlichen die nötigen Voraussetzungen mitbringen – also die Fähigkeit, zu kooperieren, Rücksicht aufeinander zu nehmen, Geduld aufzubringen und eigenständig zu arbeiten.
Schwierige Kinder allerdings bringen auch die moderne Grundschule schnell an ihre Grenzen. „Mit denen kann man das nicht machen“, heißt es oft lapidar. Schnell sitzen diese Kinder auf Einzelplätzen, meist ganz hinten oder direkt vor dem LehrerInnenpult – das eine so wenig nützlich wie das andere. Richtig wäre es, „lernbehinderte“ und „erziehungsschwierige“ Kinder nicht mehr an die Sonderschulen abzugeben, sondern Grund- und SonderschullehrerInnen zusammenarbeiten zu lassen – in einer Schule, in einer Klasse. Dadurch könnten sie sowohl kleinere Lerngruppen für die besonders guten und die schlechteren SchülerInnen anbieten als auch gemeinsamen Unterricht. In Zeitphasen, die sich an ihrer Lebenswelt orientieren, würde besonders der Umgang miteinander geschult: Die Kinder üben im Rollenspiel, „kritische“ Situationen zu meistern, durch offene Klassenzimmer können ganz neue Neigungs- und Lerngruppen entstehen, und in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt werden in speziellen Projekten die Probleme der „Schwierigen“ bearbeitet . . .
Die Schule steht den sozialen Problemen der Gesellschaft recht hilflos gegenüber. Weder die LehrerInnenausbildung noch die konkrete Arbeit in der Schule berücksichtigt speziell die geänderten Bedingungen des Zusammenlebens, der Kommunikation und der Arbeit. Die entscheidende Frage lautet: Wo möchten wir hin? Die besonders Sprachbegabten, die hoffnungslos Unmotivierten, die Hyperaktiven, die Langsamlerner, die Frechen, die Rechenkünstler, Mädchen und Jungen, für alle gilt: In der gemeinsamen Schule müssen unterschiedliche Lernwege und Lernformen möglich sein. Das ist nur möglich, wenn der Respekt vor den Anderen, die Verständigung mit dem Fremden und die Achtung von Gefühlen „mit gelernt“ werden können. Wie soll dies ohne die Kinder geschehen, die das alles betrifft?
„Am Rande der kleinen Stadt lag ein alter, verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte ein kleines Mädchen. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz alleine da. Sie hatte keine Mutter und keinen Vater, und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönen Spiel war.“ (Astrid Lindgren: „Pippi Langstrumpf“) WOLFGANG RAUCH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen