: Klimamessungen im Hochgebirge
Vegetationsökologen untersuchen auf 72 Berggipfeln die Folgen der Klimaveränderung. Das Beobachtungsnetz reicht vom Ural bis zur Sierra Nevada. In einer weiteren Phase soll das Beobachtungsnetz auf die ganze Welt ausgedehnt werden
von URS FITZE
Das Leben im Umkreis von Gletschern und ewigem Schnee ist eine Sache für Spezialisten, die sich den extremen Bedingungen im Laufe der Evolution angepasst haben. Zum Beispiel die „Löwenhaut“: Sie klammert sich in festen, dicken Polstern an Felsbänder der Frostzone oberhalb von 3.000 Meter in der südspanischen Sierra Nevada. Das Pflänzchen kommt nur in diesem südlichsten Gebirge Europas vor, zusammen mit Dutzenden weiteren Arten, die hier selbst während der letzten Eiszeit eine Überlebensnische fanden, sich danach aber nie mehr weiter ausbreiten konnten.
In den Gipfelregionen der Sierra Nevada sind über 90 Prozent der Pflanzen endemisch – und gefährdet. Was die Kälteperioden auf den nie vom Gletschereis bedeckten Gipfeln der jüngsten Erdgeschichte nicht bewirken konnten, droht jetzt, wo sich das Klima ins andere Extrem entwickelt, Wirklichkeit zu werden: das Aussterben zahlreicher an die hochalpinen Bedingungen angepasster Pflanzen. Denn wenn es wärmer wird, drohen diese Spezialisten von Arten verdrängt zu werden, die aus unteren Höhenstufen nach oben wandern. Das hat der Vergleich von vegetationskundlichen Studien im Alpenraum, die bis 150 Jahre zurückreichen, gezeigt. In den Gipfelregionen hat sich die Pflanzendecke signifikant verändert und präsentiert heute Arten, die früher keine Überlebenschance gehabt hätten.
Am 3.497 Meter hohen Schrankogel in den Stubaier Alpen im Tirol, dem vegetationskundlich bestuntersuchten Gletscherberg der Welt, sind Wissenschaftler der Abteilung Vegetationsökologie des Wiener Universitäts-Instituts für Ökologie und Naturschutzforschung heute in der Lage, erste Modelle der künftigen Vegetationsentwicklung vorzulegen. „Wir rechnen mit einer großflächigen Verschiebung der Höhenzonen und einer deutlichen Reduktion der auf extreme Standorte spezialisierten Arten. Einige von ihnen könnten ganz verschwinden“, fasst der Hochgebirgsökologe Michael Gottfried die bisherigen Erkenntnisse zusammen. 1994 war der Pflanzenbestand des Berges auf einem ganzen Netz von quadratmetergroßen Flächen exakt erfasst worden.
Schon Ende der 90er-Jahre streckten die Wiener Wissenschaftler weltweit ihre Fühler aus mit dem Vorschlag, erdumspannend ein Netz von Beobachtungsstandorten in Gipfelregionen aufzuspannen. Sie stießen auf ein positives Echo. Aus zwei Gründen: Zum einen ist der Forschungsbedarf hoch, und viele Parameter der Vegetationsentwicklung im Hochgebirge sind noch weitgehend unbekannt. Zum andern zeigen die bisherigen Resultate, dass die Vegetation auf den Gipfeln als guter Indikator für die Klimafolgenforschung dienen kann.
„Das erwärmungsbedingte Höhersteigen von Pflanzenarten ist im Gange. Wir wissen nur nicht, wie schnell und in welchem Ausmaß. An den Kältegrenzen können wir die Auswirkungen von langfristigen Klimaveränderungen am deutlichsten erkennen, dort, wo die Vegetation auf abiotische Faktoren besonders empfindlich reagiert. Zudem laufen die Veränderungsprozesse weitgehend ungestört von menschlichem und tierischem Einfluss ab, was eine zuverlässigere Interpretation erlaubt“, erklärt der Hochgebirgsökologe Harald Pauli.
Nach einer Machbarkeitsstudie gab schließlich die EU-Kommission in Brüssel grünes Licht für „The European Dimension of a Global Observation Research Initiative in Alpine Environments“ (Gloria-Europe, www.gloria.ac.at) und sicherte 1,1 Millionen Euro zu.
In den kommenden zwei Jahren werden nun in der Region von 72 europäischen Berggipfeln von der Sierra Nevada bis ins Uralgebirge der Vegetationsbestand erfasst und Temperaturmessgeräte installiert. In einer weiteren Phase soll das Beobachtungsnetz auf die ganze Welt ausgedehnt werden. Ziel ist es, die Vegetation auf den ausgewählten Gipfeln im Zehnjahresrhythmus zu erfassen, um im Zusammenhang mit den Temperaturdaten Veränderungen erfassen und interpretieren zu können.
„Wir leisten hier Pionierarbeit für die Klimafolgenforschung“, sagt Georg Grabherr vom Schweizer alpinen Zentrum für Phytogeographie in Champex. Die gängigen Klimamodelle beruhen auf Berechnungen, die sich auf ein sehr grobes Datenraster stützen. Regionale Rückschlüsse sind damit kaum möglich, und die Vorhersage von Veränderungen in der Vegetation ist praktisch ausgeschlossen.
Bei Gloria kommt ein wesentlich feineres Instrumentarium zum Einsatz. „Uns geht es nicht nur darum, vor dem drohenden Verschwinden seltener Pflanzen zu warnen“, umschreibt Grabherr die Zielsetzung. „Wir bauen an einem Instrumentarium, das die Folgen der Klimaerwärmung aufzeigen kann, um auf bedrohliche Entwicklungen auch regional frühzeitig hinweisen zu können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen