„Sagen Sie doch einfach Jörmundur“

Jörmundur Ingi Hansen ist das geistige Oberhaupt einer noch jungen und trotzdem steinalten isländischen Religionsgemeinschaft, der heidnischen Gemeinde der Ásatrúa – die überraschend viel mit der Achtundsechzigerbewegung zu tun hat

Interview WOLFGANG MÜLLER

Der isländische Kaufmann Jörmundur Ingi Hansen, cirka 72, importierte vor seiner Pensionierung deutsche Küchenmöbel nach Island; seit 1994 ist er das geistige Oberhaupt der heidnischen Glaubensgemeinschaft der Ásatrúa. Sein Vorgänger im Amt, Bauer Sveinbjörn Beinteinsson, hatte die Gemeinschaft 1972 gegründet. Wikingergötter wie Odin, Thor, Freyja und die ganze Elfenschar erhielten damit ein neues Forum auf der Polarinsel. Die Heidengemeinschaft wurde umgehend offiziell vom Staat als Religionsgemeinschaft anerkannt und entwickelte sich alsbald zum Sammelbecken von Künstlern, Aussteigern und Intellektuellen, die aus der lutherischen Staatskirche ausgetreten waren. Sveinbjörn Beinteinsson stand bis zu seinem Tod 1994 den Heiden als geistiges Oberhaupt, Allherjargódi genannt, vor und sang schon mal mit seiner alten Freundin Björk eine Ode auf die alten Götter. Wolfgang Müller traf Jörmundur Ingi Hansen in Reykjavík im Café Paris.

taz: Guten Tag, Herr Obergode Jörmundur Ingi Hansen. Habe ich Sie korrekt angesprochen?

Jörmundur Ingi Hansen: Allhersjargódi lautet der korrekte Titel. Unter dem bin ich auch im Telefonbuch verzeichnet. Aber sagen Sie doch einfach Jörmundur zu mir.

Wie sind Sie zum Allherjargódi geworden, durch Berufung oder eine Wahl?

Selbstverständlich durch eine freie und geheime Wahl. Alle 447 isländischen Heidenmitglieder konnten sich daran beteiligen.

Über vierhundert? Die protestantische Kirche spricht in ihrer Statistik von 282 registrierten Heiden.

Die Zahlen, die die Kirche verbreitet, sind selbstverständlich falsch. In deren Statistiken werden nur in Island lebende Ásatrúar erfasst. Dabei wohnen natürlich sehr viele heidnische Isländer im Ausland.

Als die Kirche im Sommer vergangenen Jahres auf dem ehemaligen Parlamentsplatz, dem Thingvellir, ihre Festlichkeiten zu „Tausend Jahre Christentum auf Island“ abgehalten hat, veranstalteten Sie dort ebenfalls eine Feier. Gibt es denn überhaupt für Sie einen Grund zu feiern, wo doch im Jahr 1000 der Oberheide Thorgeir von Ljósvatn auf dem Thingplatz das Heidentum abgeschafft und das Christentum per Abstimmung eingeführt hat?

Nun, es handelte sich bei uns ja weniger um eine religiöse Feier als um eine Zusammenkunft. Diese halten wir alljährlich am Tag der Parlamentseröffnung unserer Ahnen, am 24. Juni, ab, zur Zeit der Mittsommerwende. Erstens haben wir uns ganz einfach da getroffen, weil es so viele Nullen im neuen Jahr gibt (lacht auf). Und zweitens wollten wir der Entdeckung Vinlands, also Amerikas, durch Erik den Roten gedenken und, drittens, an den Vertrag erinnern, den Christen und Heiden vor tausend Jahren hier an diesem schönen Ort miteinander geschlossen haben. Dieser Vertrag machte nämlich möglich, dass unsere alte Religion weiterlebte – bis heute.

Sie wurde auf den zweiten Platz verwiesen . . .

Im Gegensatz zu anderen Ländern haben auf Island heidnische Traditionen kontinuierlich weiterexistiert. Klar, die Entscheidung Christen zu werden, wurde den Isländern aufgezwungen. Vom norwegischen König und von einigen Splittergruppen innerhalb des isländischen Staates. Aber in der Hauptsache war es ja eine Reaktion auf den Druck von außen, den starken wirtschaftlichen Druck. Handelsboykott und Wirtschaftsembargo drohten. Island war damals wie auch heute sehr abhängig vom Handel. Und wo immer jemand in Europa Handel trieb, konnte er das jedenfalls nicht als Heide.

Warum nicht?

Man musste getauft sein, sonst bekam man keine Genehmigung. In Norddeutschland und England wachten Bischöfe persönlich darüber, dass heidnische Isländer keine Handelserlaubnis bekamen. Stellen Sie sich vor: Es ist weniger als 150 Jahre her, dass in Island selbst Katholiken und Juden keinen Handel treiben durften – es sei denn, sie konvertierten zum Protestantismus!

Erklären Sie sich so, dass die Isländer mit der Annahme des Christentums einen Vertrag etablierten, der die Ausübung einiger alter heidnischer Bräuche weiterhin gestattete? Etwa das Essen von Pferdefleisch, die Kinderaussetzung und die Erlaubnis, weiterhin den alten Göttern zu dienen – wenngleich nur im privaten Bereich?

Ja sicher, obwohl das mit der Kinderaussetzung nicht bewiesen ist. Es gab ja außerdem hier keine offizielle Kirche, mit der dieser Vertrag hätte geschlossen werden können. Eigentlich wurde die erst im Jahr 1056 gegründet.

Sind Ihrer Meinung nach die Isländer also nie wirklich gläubige Christen geworden?

Davon bin ich absolut überzeugt. Es handelt sich eher um eine Verschmelzung beider Glaubensrichtungen. Dadurch entstand ein einzigartiger Zwischenbereich von Heidentum und Christentum. Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts werden in unseren mittelalterlichen Schriften – und davon gibt es ja bekanntlich reichlich – keine abfälligen Bemerkungen über das Heidentum gemacht. Im Gegenteil: Heidnische Riten, Götter und Tempel werden beschrieben, einfach so, als Tatsache. Erst danach fließen negative Aspekte in solche Beschreibungen mit ein.

Was war geschehen?

Die katholische Kirche führte die Beichte ein. Ich glaube, das geschah im Jahr 1238. So konnten die Priester nun auf direktem Wege erfahren, ob ihre Schäfchen im Privaten die alten Göttern noch anbeteten oder ihnen freundliche Verse widmeten. Und Leugnen war ja eine Sünde, die bestraft werden konnte. So wuchsen Macht und Einfluss der Kirche durch die Kontrolle der Gedanken.

Und diese Kontrolle verlief auf Island weniger erfolgreich als anderswo?

Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts wurden noch eine ganze Anzahl Gesetze eingeführt, um Menschen von der Ausübung alter heidnischer Rituale abzuhalten. Das zeigt ja sehr deutlich, wie verbreitet das Heidentum auch in dieser Zeit gewesen sein muss.

Manche Isländer halten Ihre Heidengemeinschaft für einen Ausläufer der Achtundsechzigerbewegung, vielleicht sogar den einzigen auf der Insel.

Die Studentenbewegung? Hmm, ja, wahrscheinlich. Island ist Teil des Westens, und die Ideen, die da entstehen, kommen ja auch zu uns. Ich selbst habe schon in den Fünfzigerjahren für die Gründung einer Heidengemeinschaft gekämpft, aber niemand wollte damals etwas davon wissen. Die wachsende Offenheit durch die Studentenbewegung hat sicher einen großen Anteil an der Entstehung gehabt.

Und wie stehen Sie zur sexuellen Befreiung? Der Justizminister Islands Thorsteinn Pálson von der konservatischen Partei hat 1996 ein Partnerschaftsgesetz für Schwule und Lesben im Parlament vorgestellt. Es gab nur eine einzige Gegenstimme, die eines Pastors und Parlamentsabgeordneten der Westmännerinseln. Eine kleine Gruppe fundamentalistischer Christen protestierte vor dem Staatstheater gegen die Trauungen. Würden Sie ein gleichgeschlechtliches Paar trauen?

Wir sind in der glücklichen Lage, das zu akzeptieren, was Menschen heute als normal und natürlich empfinden. Die Kirche ist in der bedauernswerten Situation, Gesetze verteidigen zu müssen, die zwei-, ja manchmal sogar dreitausend Jahre alt sind und aus einem völlig anderen kulturellen Zusammenhang kommen. Es gibt keinen Grund, gleichgeschlechtlichen Paaren, die ihr Leben miteinander teilen wollen, wirtschaftlich und emotional, eine Zeremonie vorzuenthalten. Ich habe bisher über sechzig Paare getraut, bisher allerdings kein gleichgeschlechtliches. Vielleicht müsste in diesem Fall eine spezielle Zeremonie kreiert werden.

Wie stehen die Isländer ganz allgemein zu ihren Aktivitäten?

Bei unserem Treffen im vergangenen Jahr kamen über tausend Besucher, darunter zahlreiche Kinder. Viele Zuschauer müssen Christen gewesen sein. Hier hat niemand Angst vor uns und unseren Zeremonien. Die Kirche selbst hat bei ihrer Veranstaltung mit 75.000 Besuchern gerechnet und extra dafür eine Straße zum Thingvellir Nationalpark gebaut. Es kamen aber nur höchstens zehntausend. Die Kirche verliert beständig Mitglieder, während wir 25 Prozent Zuwachs im Jahr haben. Wenn das so weitergeht, wird es im Jahr 2056, zum tausendjährigen Jubiläum der Kirche, nur noch Heiden auf Island geben.

Der isländische Bischof Karl Sigurbjörnsson hat sich einmal kritisch zu den Elfen geäußert, als der Hvalgöngurtunnel gebaut wurde und die Bauarbeiter eine Bitte an die Zwerge und Erdelfen richteten, den Tunnel zu schützen. Er meinte, man dürfe Folklore nicht mit Glauben vermengen. Glauben Sie an Elfen?

Na hören Sie mal, meine Großmutter hat mir erzählt, dass sie mit den Elfen spricht. Wer bin ich denn zu sagen, sie wäre verrückt gewesen? Die Elfen werden hier zuweilen Huldufolk, also versteckte Menschen, genannt. Diese Bezeichnung mag die Kirche lieber. Noch im 17. Jahrhundert beschwerte sich ein Bischof, dass einige Frauen den Elfen Essen opferten. Und vor einigen Jahren habe ich mit einer Gruppe über Elfen diskutiert. Es stellte sich heraus, dass vier Diskussionsteilnehmer in ihrer Jugend Frauen kannten, die den Elfen an speziellen Tagen Opfergaben brachten. Das ist doch überaus erfreulich.

Sie haben im Jahr 1999 die erste heidnische Beerdigungszeremonie seit vielleicht neunhundert Jahren abgehalten. Zwar auf eigener Parzelle neben dem Friedhof, aber in einer Friedhofskapelle, die der Kirche gehört. Sie sind also zu Kompromissen mit der Kirche durchaus bereit?

Wir haben ja ein eigenes Haus am Hafen, ein ziemlich großes sogar. Doch wir wollen mehr. Ein paar Architekten entwerfen gerade einen Tempel für uns. Ich habe schon mit der Stadtverwaltung von Reykjavík gesprochen, um einen Ort für die Errichtung eines Tempels im Zentrum der Stadt zu finden. Möglichst ganz in der Nähe, wo der alte Heidentempel gewesen sein müsste, vielleicht fünfzig Meter davon entfernt.

Und wo genau ist das?

Direkt neben dem Parlament. Die Kathedrale steht auf der einen Seite, und wir würden dann auf der anderen den Tempel errichten. Das Parlament läge dann genau zwischen Kathedrale und Heidentempel.

WOLFGANG MÜLLER, 43, Künstler, taz-Autor, Island- und Elfenspezialist, lebt in Berlin und Reykjavík. Am 1. August referiert und singt er im Kreuzberger Restaurant Abendmahl zum Thema „Pilzzwerge und Blütenelfen“. Dazu wird ein Fünfgängemenü aus Blütenspeisen gereicht. Im Herbst erscheint im Verbrecher Verlag, Berlin, seine Märchensammlung „Die Elfe im Schlafsack“