: Eine Schreibe, die nicht swingt
Und unerfüllte Projektionen: Eric Hobsbawms Buch über Jazzmusiker und andere „ungewöhnliche Menschen“ leidet an gestrigen Thesen
Distribution ist alles, murmelt die schwarze Avantgarde, die bei Hobsbawn übrigens nicht gut wegkommt. Der britische Sozialhistoriker Eric Hobsbawn, Jahrgang 1917, der lange Zeit auch an der New School for Social Research in New York lehrte, bringt es auf folgende Formel: ohne Radio keine weltweit verbreitete Negro Music, ohne Blues kein Rock ’n’ Roll.
Schon Ende der Fünfzigerjahre erschien sein Buch „The Jazz Scene“, damals noch unter dem Pseudonym Francis Newton, und auch in seinem neuen Buch „Ungewöhnliche Menschen“ steht der Jazz im Mittelpunkt. Es sind mal wieder die sozialen Missstände im modernen Kapitalismus, die Hobsbawn vorführt. Leute, die anonym geblieben wären, deren kulturelle Erfindungen nicht weltweit die Runde gemacht hätten – gäbe es da nicht das Geschäft, den einfachen Leuten in den wachsenden Städten etwas zur Freizeitbeschäftigung und Unterhaltung anzubieten.
„Ungewöhnliche Menschen“ handelt nicht nur von Jazzmusikern – auch Maschinenstürmer, Bauern, Banditen und Schurken zählt der Sozialhistoriker zu dieser Gattung. Zum Thema Jazz sind hier nun vor allem Buchbesprechungen aus den Achtzigerjahren versammelt, die Hobsbawm für die New York Review of Books geschrieben hat.
Der rote Faden ist leicht gestrickt: Es geht um den Jazz als die Musik armer Schwarzer, die afroamerikanischen Elendsbezirke als Entwicklungszentrum großer Künstler und um eine Kunst, die nicht so recht in den großen abendländischen Kanon passen will. Immer wieder verortet Hobsbawm den Jazz in dem sozialen Kontext, in dem er entstand, und der dann später verschwand. Ein Kernsatz dazu stammt von einem Musiker aus dem Duke Ellington Orchestra: „Eigentlich wollte ich nur ein erfolgreicher Zuhälter werden. Aber dann stellte ich fest, dass ich Trompete blasen konnte.“ Jazz lebte von Kunden, die zahlten. Das trennte diese Musiker auch von den so genannten Künstlern.
Der afroamerikanische Blues-Schriftsteller und Berater von Wynton Marsalis, Albert Murray, hat den Pianisten und Bandleader Count Basie zehn Jahre lang befragt und beobachtet und ist mit ihm zu den Stätten gefahren, wo einmal alles begann in Kansas City, bevor sein Basie-Buch „Good Morning Blues“ fertig war. Zu den Paradoxien des Authentischen, die Hobsbawm hier hervorhebt, gehört, dass zwei der bekanntesten Vertreter des Kansas City Sounds, Basie selbst und der Sänger Jimmy Rushing, erst noch den Blues erlernen mussten, den das schwarze Ghettopublikum von ihnen hören wollte.
Gleichzeitig bezeichnet Hobsbawm Adornos Thesen über die Schlechtigkeit des Jazz als „einige der dümmsten Seiten, die je über Jazz geschrieben wurden“. Gewiss krankte die europäische Rezeption dieser Musik schon früh an den Vorgaben und Irrtümern der Frankfurter Schule, die eine Musik der Zukunft auf keinen Fall im Jazz angekündigt sehen wollte. Doch je mehr Hobsbawm seiner These hinterspürt, der Jazz stamme aus den schwarzen Armenvierteln, je trüber die Aussichten: Rap und HipHop mag Hobsbawm nicht, und das schwarze Publikum habe das Interesse am Jazz schon vor vierzig Jahren verloren. Hier trifft sich der kritische Sozialhistoriker recht unerwartet mit dem Filmemacher Ken Burns und dem Protagonisten des RetroJazz, Wynton Marsalis.
In seinem Essay über den Jazz nach 1960 – das heißt auch über die Entwicklung, die der Jazz nach seinem eigenen Buch „The Jazz Scene“ nahm – lässt sich Hobsbawm zu Thesen hinreißen, die sich seltsam rückwärtsgewandt lesen. Die Avantgarde hätte den Fehler gemacht, sich als Künstler zu begreifen, sprich: das zahlende Publikum aufs Spiel zu setzen. Und sie starb zu früh, um die Musik entwickeln zu können. John Coltrane, Albert Ayler, Eric Dolphy hinterließen junge Fans und eine tote Musik, die auch durch die Politisierung der Szene den Anschluss an ein größeres Publikum nicht mehr fand – da konstruiert Hobsbawm schwer erträgliche Zusammenhänge. Archie Shepps „Attica Blues“ kommentierte soziale Realitäten, doch Hobsbawm sucht nach versendeten Prognosen.
Dass der Sopransaxofonist und Klarinettenspieler Sidney Bechet bei Hobsbawm als Trompeter oder Wynton anstelle von Branford als der ältere Marsalis-Bruder in diese Geschichte des Jazz eingehen, dass sind Unebenheiten, die nicht sein dürfen. Der „Ghettoblaster“ könne ein Saxofon nicht ersetzen, und so laufe der Jazz Gefahr, seine Wurzeln zu verlieren, postuliert Hobsbawm zum Schluss. Auch das macht dieses Buch zu einem Ärgernis – es leidet an einer Schreibe, die nicht swingt, und einer Projektion, die so keiner erfüllen will.
CHRISTIAN BRÖCKING
Eric Hobsbawm: „Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz“. Hanser Verlag, München 2001, 424 Seiten, 49,80 DM
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