Übersetzung: taz-Lateinstunde (IV) : Was, um Himmels Willen, lieber Karasek...
Über große Dichter, bedeutende Philosophen, herausragende Sportler, ausgezeichnete Staatsmänner
Schon Cicero soll zu seinem Nutzen immer mit der Lektüre das Denken verbunden haben und das nicht nur in der Philosphie allein, sondern auch in der Rhetorik. Ihr, meine lieben Zeitgenossen, vor allem diejenigen, die schon Jahre mehr als ein Drama, mehr als eine Oper sehen und hören, mit Schriftstellern und wichtigen Frauen und Männern der Wissenschaft diskutieren - und das in der Hauptstadt Berlin, müsst ja geradezu überfließen an Regeln für und Unterweisungen in Kritik, und zwar sowohl auf Grund des immensen Rufes der Vorbilder als auch des Rufes der Stadt: Die einen können euch durch Wissen fördern, die andere durch Vorbilder. Dennoch empfehle ich euch es Cicero gleich zu tun: Auf dass ihr gleich fähig seid in beiden Arten der Kritik.*
Innerhalb der Kritik geschieht es oft, dass ein Kritiker. Obwohl eine Menge von Fragen zu klären wären, vorzieht, Schulmeister zu sein, er lobt und tadelt. Er lobt und tadelt den Autor, er lobt und tadelt nicht nur das Werk selbst. Erwarten wir von einem Kritiker eine solche Einschätzung? Hitliste(n) aufzustellen wäre die Aufgabe der Kritiker.
?Lieber Karasek, was um Gottes Willen lockt Sie zu der Kühnheit, die Sie brauchen, wenn Sie diesen mittelmäßigen Schriftsteller mit den wahrhaft großen Meistern Robert Musil und Thomas Mann vergleichen? Finden wir nicht täglich Schulmeistereien solcher Art in den verschiedensten Bereichen?
Pop- oder Jazzsängern und denen, die Opern inszenieren, Sportlern und Trainern, Schauspielern und Regisseuren, Gitarristen und Pianisten, Drehbuchautoren und Dichtern und den übrigen: Allen wird ein bestimmter Rang auf einer ewigen Rangliste des Von-Bedeutung-Seins zugesprochen. Das ist nicht die Aufgabe der Kritik! Die Kritik soll den, der vielleicht ein Werk oder einen Autor lesen, hören, anschauen, wahrnehmen will, an dieses Werk oder an diesen Autor heranführen und erklären, wie das Werk komponiert ist, was die Intension des Werks ist. Darüber hinaus mag der Kritiker, wenn er‘s nicht lassen kann, eine Beurteilung anfügen, aber eine angemessene. Eine Beurteilung des ?Von-Bedeutung-Seins`` scheint mir wie gesagt nicht angemessen, ja völlig uninteressant. Angemessen dagegen für Wissenschaften und Philosophie ist eine Beurteilung, wenn sie sich auf die Neuheit und die Wahrheit von Sätzen erstreckt. Denn Ziel beider ist, neue wahre Sätze hervorzubringen. Für die Literatur ist eine Beurteilung angemessen, wenn sie sich auf die Neuheit, die Eleganz und den ästhetischen Reiz erstreckt. Denn Ziel von Literatur (und anderen Künsten) ist, neue Wahrnehmungen, neue Arten zu handeln, zu leben zu entwerfen. Eine Beurteilung dieser Art kann hinzugefügt werden, muss aber nicht. Ich könnte drauf verzichten. Wenn der Kritiker gut an das Werk oder den Autor heranführt, kann man die Beurteilung getrost dem Lesenden, dem Hörenden, dem Zuschauenden, dem Wahrnehmenden überlassen.
*Dieser Satz stellt eine gemeine Verballhornung des ersten Satzes aus Ciceros „De officiis“ dar.
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