: Tricks mit den Konventionen des Genres
■ Tatsuya Oshimas Im Reich der Sinne erkundet die Macht menschlicher Sexualität
Madonna ließ 1996 bei den Filmfestspielen in Cannes verlauten, Im Reich der Sinne sei aufgrund seiner Sinnlichkeit ihr Lieblingsfilm. Doch was macht einen Film, der diese Qualität schon im Titel verkündet, zu einem sinnlichen Ereignis? Wenn Tatsuya Oshimas Film Titel und Würdigung verdient, dann sicherlich weder seines pornographischen Genres noch seiner Skandalerzählung wegen.
Zwar wendet Oshima sämtliche Regeln der pornographischen Kunst an, um die wahre Geschichte der sexuellen Beziehung zwischen Kichizo und Seba nachzuerzählen. Aber erst die Macht seiner Bilder und der bezwingend langsame Rhythmus des Films lassen die dargestellten Sexszenen zu einem Nebenschauplatz werden. Sinnlich ist Im Reich der Sinne deshalb, weil er die Sexualität isoliert und ihr den Platz gibt, sich als mächtige und entmächtigende Kraft zu entfalten.
Um diese Entfaltung zu ermöglichen, erzählt Oshima durch die Geschichte einer Obsession hindurch von einer anderen Obsession. Kichizo und Seba begegnen sich, begehren sich, begatten sich. Ihre Phantasie der sexuellen Spielarten kennt keine Grenzen, weil sie sich aller Gesellschaft und Gesellschaftlichkeit versagen. Wenn im Laufe des Films jegliche Nebenfigur den Schauplatz verlässt, so deshalb, weil ihre beidseitige sexuelle Entgrenzung niemanden und nichts mehr gelten lässt. Genau darin liegt ihre sexuelle Obsession: Dass sie gemeinsam die Lust um jeden Preis in den Mittelpunkt stellen.
Am Ende kostet diese Haltung das Leben, in der Zwischenzeit wird jedoch ihre innere Bildfläche mehr und mehr entleert. Jede Begegnung mit anderen steht im Zeichen eines gemeinsamen Lustgewinns. Essen und Schlafen wollen nichts mehr besagen. Indem die Sexualität zu einem ausschließlichen Wunschziel erhoben wird, gewinnt sie eine grenzenlose und ausschließliche Qualität, der jede andere Lebensäußerung unterworfen wird. Da sie als schrankenloser Genuss inszeniert wird, gebietet weder die Achtung vor anderen noch das eigene Leben einen Halt. So gestaltet, wird sie zu einer unaufhaltsamen Selbstverzehrung, die Oshima konsequenterweise im Tod enden lässt.
Gleichzeitig reflektiert Im Reich der Sinne eine weitere Obsession, die in der Lust der ZuschauerInnen am Schauen besteht. Indem Oshima die Geschichte von Seba und Kichizo isoliert und ihre Sexualität zur einzigen Erzählung des Films erhebt, verlieren die ZuschauerInnen jede identifikatorische Anbindungsmöglichkeit an andere Charaktere. Der voyeuristische Blick wird somit nicht mehr durch eine Figur vermittelt, sondern wohnt unvermittelt der sexuellen Handlung bei. Und darüber hinaus regt die sorgsame und mit intensiven Farben angereicherte Bildkomposition an, Gefühle in den Film zu investieren. Oshima bedient sich pornographischer Konventionen, um den ZuschauerInnen einen Lustgewinn durch identifikatorische Nähe zu vermitteln.
Die libidinösen Besetzungen der ZuschauerInnen werden jedoch Im Reich der Sinne gegen sich selbst gewendet. Denn die Norm-überschreitung Sebas und Kichizos, die in ihrer unersättlichen und ausschließlichen Lust besteht, wird von den ZuschauerInnen wiederholt. Der unabgewendete und der Schaulust verfallene Blick der ZuschauerInnen wird gleichfalls bis in den Tod hinein gehen – eine Handlung, die Oshima in ihrer radikalen Unausweichlichkeit zum Tragen bringt. Es ist diese doppelte Erkundung menschlicher Sexualität, die Oshimas Film zu einem sinnlichen Meisterwerk macht. Doro Wiese
Fr, 21.15 Uhr, So, 19 Uhr, Mo, 17 Uhr + Di, 21.30 Uhr, Metropolis
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen