: Neue Zahlenspiele
Jagoda: 3,4 Millionen Arbeitslose erreichbar. Union will Verweigerern Sozialhilfe streichen. DGB warnt vor „amerikanischen Bedingungen“
von LUKAS WALLRAFF
Wenn die alten Griechen nicht mehr weiterwussten, befragten sie das Orakel von Delphi. Eine ähnliche Rolle hat heute der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit. Fast täglich wird Bernhard Jagoda gefragt, wie sich die Arbeitslosenzahlen denn nun entwickeln werden. Das nervt ihn. „Ich habe so viel zu tun“, sagte Jagoda gestern, „dass ich mich an diesen Spielchen nicht beteilige.“ Also wollte er auch die neueste Prognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), im nächsten Jahr seien 3,8 Millionen Arbeitslose zu erwarten, nicht kommentieren. Arbeitslosigkeit sei keine Rechenaufgabe, betonte Jagoda, sondern vor allem ein „Individualschmerz“ für die Betroffenen.
Für einen ist die Arbeitslosigkeit aber vor allem ein Zahlenproblem: „3,5 Millionen“ – dieses ehrgeizige Ziel hatte Kanzler Gerhard Schröder ausgerufen, daran muss er sich vor der Bundestagswahl messen lassen. Erst recht, nachdem sein Arbeitsminister Walter Riester gestern betonte, dieses Ziel sei „immer noch realistisch“. Fast schien es, als habe CDU-Mann Jagoda ein bisschen Mitleid mit der SPD. Für Pessimismus gebe es keinen Grund, sagte Jagoda – und nannte doch noch Zahlen: Statt 3,5 seien sogar 3,4 Millionen möglich.
Die Opposition glaubt nicht daran – und fordert mal wieder drastische Sanktionen für Arbeitsverweigerer. Wer Angebote ausschlage, solle den Anspruch auf Sozialhilfe verlieren, polterte CDU/CSU-Fraktionsvize Horst Seehofer. Ausnahmen dürfe es nur „bei medizinischer oder sozialer Indikation“ geben.
In ihrem „Sofortprogramm für den Arbeitsmarkt“ verlangt die Union, staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) einzuschränken und stattdessen mehr finanzielle Anreize für die Arbeitsaufnahme im Niedriglohnbereich zu bieten. So solle für die Empfänger von Arbeitslosengeld bei Aufnahme einer niedriger bezahlten Beschäftigung ein Zuschlag gezahlt werden, der das Einkommen bis auf 10 Prozent über das bisherige Arbeitslosengeld aufstocke.
Nach einigen grünen Politikern forderte auch Seehofer eine Beitragssenkung der Arbeitslosenversicherung: „Wir wollen dem kleineren Koalitionspartner helfen, dass vernünftige Vorschläge Realität werden.“
DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer warnte unterdessen vor „amerikanischen Bedingungen“ in Deutschland und sprach von einer „Kampagne gegen ABM“. Die von der Union gewünschten Lohnsubventionen seien keine Alternative. Entsprechende Modellversuche hätten bisher wenig Erfolg. Besonders in Ostdeutschland sei ABM immer noch besser, „als die Menschen auf der Straße stehen zu lassen“. Auch Jagoda verteidigte die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – wenn auch nicht ganz so leidenschaftlich wie Engelen-Kefer: „Ich liebe ABM nicht, ich liebe meine Frau.“
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