Sogar James Last

■ Die Weserinsel Harriersand ist Pflichtstation für Ausflugs- und Landschaftsbegeisterte im Nordwesten. Eine Geschichte über die Geschichte einer Schönheit. Text: Kristin Hunfeld Fotos: Julia Baier

Sonntagnachmittag um zwei an der Braker Heukaje. Einmal Hupen, dann legt die kleine Fähre Guntsiet ab. Ziel: die Weserinsel Harriersand. Dreizehn Kilometer ist sie lang, größer als Wangerooge, und größer als Helgoland. Ein breiter Sandstrand, kleine Buchten im Schilf, Dünen. Fünf Minuten dauert die Überfahrt, am Strand ist es ruhig.

Ein Bötchen schaukelt auf den Wellen, ein junges Paar sitzt auf einer Bank, vor der Strandhalle genießt eine Rentnergruppe in Wanderschuhen die Sonne. Keine Eisverkäufer, keine Pommesbuden, die einzige Infrastruktur sind öffentliche Toiletten und die sogenannten UKKs, kleine bunte Umkleidekabinen aus Holz. Das Strandbad von Harriersand zieht keine großen Touristenströme an, und das soll auch so bleiben, sagt Heidi Seidler vom Inselverein: „Die Insel würde das gar nicht verkraften.“

Seit 75 Jahren ist Harriersand vor allem Erholungsgebiet für Tagesgäste. Damals errichtete die Stadt Brake hier ein Strandbad für ihre Bürger. Sie baute Strandhalle und Anleger, zwei Barkassen aus dem Hamburger Hafen wurden zu Fähren umfunktioniert. Im Halbstundentakt fuhren die „Stadt Brake“ und die „Carl August“ über die Weser, ein reges Strandleben entwickelte sich. Aus der ganzen Wesermarsch und aus Bremen kamen die Menschen, aus Oldenburg wurden Sonderzüge eingesetzt, und es gab verbilligte Fahrkarten.

Gerd Winter war damals drei Jahre alt, mit seinen Eltern fuhr auch er im Sommer 1926 zur Einweihung des Strandbads. Alte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den kleinen Gerd mit Familie und Nachbarn, im Hintergrund Sandburgen, geschmückt mit Fähnchen. Und kleine Strandzelte, vierzig in einer Reihe, die waren rot und blau gestreift, erinnert sich der 73-jährige, die Vorläufer der UKKs: „Wer beim Auskleiden am Strand erwischt wurde, der wurde dahin verwiesen, man durfte sich ja nicht im Freien umziehen.“

Auch die Kleidervorschriften waren streng. Geschlossene Badeanzüge mussten die Strandbesucher tragen, erzählt Winter. „Nur Knaben unter 15, die durften Badehosen anhaben.“ Kein Problem für die Braker Honoratioren. Sie sind auf den alten Fotos in schwarzen Anzügen und steifen Hüten zu sehen. „Baurat Uhlenbusch, Schuldirektor Becker, Wilhelm von Busch von den Oldenburger Nachrichten, Lehmann vom Weserboten und Lehrer Wittholt, und natürlich der Gründer des Strandbads, Jan Behrens“, Gerd Winter zählt sie alle auf.

Schon 1927 wurde die Strandhalle vergrößert. Eintausend Gästen bot sie Platz, dreimal pro Woche spielte die eigene Hauskapelle zum Tanz auf. Dann hörte man von weitem die Generatoren, und dann nahm Gerd Wichmann seine junge Frau und ging mit ihr tanzen. Für den heute 93-Jährigen war das die schönste Zeit seines Lebens. Bis zum späten Abend fuhr die Fähre an solchen Tagen, erzählt er: „ Der Kapitän kam rein in die Strandhalle und sagte, letzte Tour. Aber dann wurde er eingeladen, und dann blieb er da.“ Und die letzte Tour wurde halt später gemacht.

Gerd Wichmann ist der älteste der sogenannten Sandbauern. Die elterliche Firma hätte der gebürtige Bremer einmal übernehmen sollen, doch lebenslänglich am Schreibtisch, das war nichts für ihn. Er wollte lieber draußen sein und wurde Landwirt. Aus Friesland kam Wichmann 1934 auf die Insel. Ackerwagen, Geräte, Vieh, alles brachte er mit einem Boot über die Weser. Mit 23 Hektar fing er an, ein paar Jahre später waren es schon 55. Heute lebt Gerd Wichmann allein im Altenteilerhaus am Deich, den Hof bewirtschaften Sohn und Schwiegertochter. Von seinem Wohnzimmerfenster blickt der alte Mann auf die Weser und die Braker Altstadt. Jeden Tag fährt er dorthin, besucht seine Frau im Pflegeheim. Abends kommt er zurück in das kleine Backsteinhaus. „Leicht ist das nicht, nach so vielen Jahren zusammen“, sagt er leise, „aber man wird ja nicht gefragt.“

Währenddessen stellt Schwiegertochter Hede Wichmann auf dem alten Hof ein paar hundert Meter weiter die Zentrifuge an. Hauptsächlich von Milchwirtschaft lebt die Familie, 40 bis 50 Kühe und ein paar Bullen gehören zum Hof. Hede Wichmann ist auf Harriersand aufgewachsen. Als Bäuerin auf einer Insel zu leben ist für sie nichts ungewöhnliches. „Als Kinder, da wurden wir schon bewundert, weil wir einen so außergewöhnlichen Schulweg hatten,“ sagt die 63-jährige. Mit dem Ruderboot fuhren die Kinder damals zur Schule nach Brake, auch bei Nebel und Sturm. Und im Winter, bei Eisgang, blieben sie auch mal vier Wochen zu Hause. Heute sind die Sandbauern nur noch bei Sturmfluten völlig abgeschnitten, dann steht auch die Straße, die seit 1965 die Insel mit dem östlichen Weserufer verbindet, unter Wasser. Abgeschnitten vom Festland war Harriersand auch im zweiten Weltkrieg. Bomben fielen auf Bremen und Bremerhaven, und einmal auch auf die Weserinsel. Der Fährbetrieb wurde eingestellt, im 1931 gebauten Kindererholungsheim wurden Volkssturm und Hitlerjugend einquartiert. Die Braker aber fuhren weiter auf die Insel, nicht zum Strand, sondern zu den Sandbauern. Heimlich, mit dem Ruderboot, um Milch zu holen, erzählt Gerd Winter: „Das war verboten, aber wir haben es trotzdem gemacht, das war allgemein üblich.“

Nach Kriegsende lag das Strandbad verlassen da. Ein Großteil des 1926 angelegten Pappelwalds wanderte als Brennholz in die Öfen der Braker, aus den Resten des gesprengten Kinderheims bauten die Bauern Schuppen und Scheunen. Erst 1947 fuhr die Fähre wieder, das Strandleben begann von neuem. Die Strandhalle öffnete ihre Türen, es gab wieder Tanzveranstaltungen und Konzerte. „Alle waren sie hier,“ erzählt Gerd Winter, „Bruce Low, Peter Kraus und sogar James Last.“ Im Osten der Strandhalle wurde eine Freilichtbühne gebaut, der eiserne Souffleurkasten ist noch heute zu sehen. Man spielte plattdeutsche Heimatstücke, von Alma Rogge oder Thora Thyselius. Ein neuer Wald wurde angepflanzt, und 1950 entstand das erste Ferienhäuschen. Neun Quadratmeter groß, 25 Mark betrug die Jahrespacht für das Grundstück. 138 Wochenendhäuser gibt es heute, kleine Villen aus buntem Holz, mit Veranden und Gartenzwergen in blühenden Vorgärten. Die Hausbesitzer kommen aus Brake oder Bremen, aus Hannover oder Bremerhaven.

Viele von ihnen kommen schon seit ihrer Kindheit her. Doch so wie damals, als der Generator der Strandhalle weithin zu hören war, und die Sandbauern ihre Frauen zum Tanz führten, so ist es schon lange nicht mehr. Heute sitzt nur ein kleines Grüppchen Sonntagsausflügler aus Brake an der Theke der Strandhalle beim Bier. Abends um acht fährt die letzte Fähre, und mit ihr die Tagesgäste und die Wochenendurlauber. Die Sonne scheint auf den Strand, im Wasser schaukelt ein Bötchen. „Und dann,“ sagt Heidi Seidler vom Inselverein, „dann ist man König oder Königin von Harriersand. Dann hat man fast das Paradies.“