: Ich hasse Fußball
Betrügt frau fidel einen Mann, zuckt der kaum mit der Wimper. Fällt aber ein Tor gegen sein Team, weint er hemmungslos. Das kann doch alles überhaupt nicht wahr sein
von ULRIKE WINKELMANN
Ein sehr guter Journalist – ein Mensch also, der die Dinge distanziert zu betrachten gelernt hatte – erklärte mir eines Tages, was an Fußball so toll ist. Er sprach lange von „echten Gefühlen“. Ich schaute hin. Zur WM 1998 habe ich mein erstes vollständiges Fußballspiel gesehen. Plötzlich war ich infiziert.
Nicht mit Fußball.
Sondern mit Neid, Missgunst, Habgier, Eifersucht – in mir brodelte die ganze Hexenküche der Todsünden. Die Männer auf dem Rasen vergossen Schweiß literweise, und wenn einer ein Tor geschossen hatte, liefen sie über den ganzen gewaltigen Rasenplatz, um sich in die Arme zu springen und über das Gras zu kugeln. Sie weinten und sie schrien und sie gingen in die Knie.
Die Männer im Publikum waren außer sich, imitierten das Verhalten auf dem Rasen, soweit es die Verhältnisse auf den Rängen zuließen (also ohne Laufen, aber mit Trampeln, und ohne Kugeln, aber mit Umarmen).
Die Männer vorm Fernseher waren außer sich, lachten den Fernseher an, lachten sich an, bebten am ganzen Körper, schwitzen wohl auch, bewegten die Arme, als wollten sie abheben, wussten nicht, wohin mit ihren Kräften, sprangen auf, schrien.
Welche Frau, bitte, hat ihren Geliebten zuletzt in diesem Zustand gesehen?
Eben.
Ich bin neidisch auf Fußball.
Ich hasse Fußball dafür, dass er abertausende von Männern zu Gefühlsausbrüchen bewegt, die zu keinem, ich schwöre, zu keinem anderen Zeitpunkt so eindrucksvoll zu betrachten sind.
Ich verkrafte es, dass meine Freunde ausgerechnet im Sommer regelmäßig und kollektiv für die gemeinsame Freizeitgestaltung ausfallen.
Ich habe gelernt, meine Geburtstagspartys jedenfalls nicht aufs Finale zu legen. Aber ich kann es nicht ertragen, dass Männer, die auf die ärgsten Beleidigungen mit kaum einem Wimpernzucken reagieren, einen krummbeinigen Twen im Fernseher anbrüllen, weil er einen Elfmeter verschossen hat.
Und ich kann es nicht ertragen, dass Männer, die sich einen Dreck um alle meine Freundinnen und Verwandten scheren, mit wildfremden anderen Männern Verbrüderungsorgien veranstalten, nur weil elf weitere Männer, die ihnen ebenfalls fremd sind, einen Ball erfolgreich treten.
Und ich kann es nicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, dass Männer, die unsereins voll Schwung und aus ganzem Herzen betrogen hat, bestenfalls stumm ein weiteres Hartgetränk kippen, aber weinen, wenn Deutschland verliert.
Und das ist das Schlimmste: Ich weine auch. Wenn die Jungen auf dem Spielfeld weinen, weil ein Tor gefallen ist, muss ich auch weinen. Dafür hasse ich Fußball am allermeisten. Dass er bei ihnen all den Rotz und das Wasser und die Tränen laufen lässt, die mir nicht gehören, und dass ich trotzdem mit ihnen weinen muss. Mir ist das Tor total egal. Aber ich will nicht, dass sie so leiden müssen. Und ich weine, wenn sie sich freuen, weil sie sich so freuen können.
Und das ist die Krönung vom Schlimmsten: Ich beneide Männer um die Freude und die Tränen, die so etwas Dämliches wie Fußball aus ihnen herausholt. Das kann einfach alles nicht wahr sein. Und jetzt geht das schon wieder los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen