: Abhauen als einzige Lösung
Der Bericht der Süssmuth-Kommission lässt viele Türken auf eine schnelle Einwanderung nach Deutschland hoffen
ISTANBUL taz ■ Es ist das Stadtgespräch in diesem Jahr in den großen Städten der Türkei: Das Land ist am Ende, Auswandern die einzige Lösung. Von über einer Million Anträgen bei den Amerikanern und gar drei Millionen Anträgen bei den Botschaften der EU will der Metzger an der Ecke schon gehört haben. „Ganz so dramatisch ist es nicht“, sagt der Leiter der Presse und Rechtsabteilung beim deutschen Konsulat in Istanbul, Herr Graf, „aber wir haben schon ein deutlich gestiegenes Anfragenaufkommen.“
Vor allem seit türkische Medien im Zusammenhang mit dem Bericht der Süssmuth-Kommission den Eindruck erwecken, als würden in Deutschland wieder jede Menge Arbeitskräfte gesucht, klingeln bei der Botschaft und den Konsulaten die Telefone. „Wir können im Moment aber nur darauf hinweisen, dass dieRechtslage in Deutschland noch unverändert ist“, bedauert Herr Graf. Und die ist sehr restriktiv. Selbst viele türkische Geschäftsleute klagen immer wieder, dass sie Schwierigkeiten hätten, ein Visa für Geschäftsbesuche in Deutschland zu bekommen. Die deutschen Vertretungen in der Türkei werden vor Verabschiebung eines Einwanderungsgesetzes keine anderen Anweisungen bekommen, schätzt man die Lage beim Konsulat ein.
Tatsächlich wurde in türkischen Tageszeitungen der Leiter des Essener Instituts für Türkeistudien, Faruk Sen, in dem Sinne zitiert, als stünden in Deutschland bereits alle Tore offen. Dabei hatte Sen lediglich darüber geredet, dass es in Zukunft vielleicht wieder ein Kontigent für einwanderungswillige Türken geben könnte, bezogen auf die EU insgesamt. Schließlich, so Sen, sei der Türkei ja bereits in den Assoziierungsverträgen aus den 60er-Jahren Freizügigkeit in Aussicht gestellt worden.
Wesentlich zurückhaltender gab sich der zweite, häufig in diesem Zusammenhang zitierte prominente Deutschtürke, Vural Öger. Der erfolgreiche Tourismusunternehmer war das einzige Mitglied der Süssmuth-Kommission mit türkischem Hintergrund. Er versuchte denn auch jede Euphorie in der Türkei zu dämpfen und verwies darauf, dass es frühestens im Herbst zu einem Gesetz kommen wird und es dann in erster Linie um hoch qualifizierte Arbeitskräfte gehe.
Doch anders als in den 60er- und 70er-Jahren, als aus der Türkei überwiegend ungelernte Landarbeiter nach Westeuropa gingen, gibt es jetzt auch etliche gut ausgebildete Fachleute, die lieber heute als morgen ins Ausland gehen würden. Die verheerende Wirtschaftskrise hat gerade im White-Collar-Bereich zu einer bislang nicht gekannten Entlassungswelle geführt. Hoch bezahlte Banker stehen plötzlich auf der Straße, Mitarbeiter von Werbeagenturen, die bis Ende letzten Jahres noch gut dotierte Jobs auf Dollarbasis hatten, können heute froh sein, wenn sie jetzt wenigstens noch ein Gehalt in Lira bekommen, und selbst EDV-Fachleute werden arbeitslos, weil auch große Firmen zur Zeit reihenweise ihre Produktion einstellen. Gearbeitet wird nur noch für den Export.
Das Gerede über Auswanderung zeigt aber vor allem eins: Die Mehrheit der TürkInnen hat die Hoffnung verloren, dass sich an der Misere etwas ändert. Selbst Kemal Dervis, der neue Wirtschaftsminister aus Amerika, an den sich so hohe Erwartungen knüpften, kann den Frust nicht mehr abwenden. „Im Frühjahr hat er behauptet, im Sommer gehe es aufwärts“, erinnert sich der Metzger, „jetzt sehen wir, was an diesen Versprechen dran ist.“ JÜRGEN GOTTSCHLICH
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