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undogmatisch essen etc.Gladiatoren des Tellerbalancewesens

My first Pizza

„Was heißt eigentlich Pizza auf Italienisch?“, fragte unlängst eine deutsche Touristin ihren Mann in einem Café in Camogli an der italienischen Küste. Ich persönlich ärgere mich noch heute, dass ich durch die urdeutsche Küchenphilosophie meiner Mutter auf die erste Pizza fast so lange warten musste wie auf richtigen Sex. Erst unser amerikanischer Englischlehrer schleppte uns in eine Pizzeria.

In Berlin sollte man um die meisten Pizzerien lieber einen Bogen machen. Aber in Kreuzberg gibt es seit drei Jahren ein Restaurant, das die Pizza quasi noch einmal neu erfunden hat. Die Trattoria muss leider inzwischen wie ein illegaler Club behandelt werden. Nicht wegen fehlender Klos oder Notausgänge. Da die Besitzer und umliegend wohnenden Gäste nicht wollen, dass das Restaurant noch voller wird, als es eh schon ist, können wir hier Adresse und Namen nicht verraten.

Vor allem im Sommer ist das C. mit seiner kleinen Kinderrutsche in der Sandkiste im Biergarten unter Kastanien ein magischer Anziehungspunkt. Nach dem Prinzenbad esse ich hier gern eine Pizza Prataiola mit Parmaschinken, Champignons, Rucola und Parmesansplittern. Mit einem Viertel Rotwein liegt man bei knapp über 20 Mark. Trotz des langsam schon unheimlichen Erfolgs haben die Besitzer die Preise noch nie erhöht.

Das C. ist nicht nur ein Hort des Leckeren, es ist auch supergut organisiert, hat fast durchweg wendige, äußerst zuvorkommende KellnerInnen, ach, man kann es gar nicht hoch genug loben. Seit knapp drei Jahren hält das C. nun unsren Kiez am Leben. Wie war das nur vorher, als hier ein schmuddeliger Pub residierte, der nur ein paar Dunkelbiersäufer von der Leberstation des nahen Krankenhauses anzog? Das C. ist eine Art Volxküche, und es ist auch noch politisch korrekt. Als im Winter ein Erdbeben in El Salvador gewütet hatte, initiierten die Ankerklause und das C. eine große Solifressaktion. Eine Erdbebensolipizza spielte mehrere tausend Mark ein.

Im C. wundern sich einige über Plakate von „Social Distortion“ oder anderen Punkacts. Tatasächlich ist einer der Besitzer Punkfan. „Sick Of It All“ steht manchmal auf seinem großformatigen Bauch, wenn er kellnert. Als vor einigen Monaten abends ein Punkkonzert im Pfefferberg sein sollte, stieg er plötzlich mit zwei anderen Kellnern ins Auto und verschwand. Nach einer Dreiviertelstunde waren sie wieder da und kellnerten weiter: ausverkauft!

Drinnen, wo es im Winter grausam eng zugeht und der Gast kaum noch Luft bekommt – das C. hat ein ewiges Problem mit der Lüftungsanlage – hängen nicht nur Punkplakate. Wer die Poster von Che über Sacco und Vancetti bis zu „Das Leben ist schön“ interpretiert, wähnt sich in einem hoch politischen, linksradikalen Kosmos. Hier hat die italienische Revolution einen Sieg auf der Ebene des guten Geschmacks errungen. Politisch sind die Roten Brigaden wohl gescheitert – aber deshalb setzt man noch lange nicht den Pizza Hut des US-Imperialismus auf. Slow Food? Keine Pizza braucht vom Bestellen bis zur Lieferung an den Tisch länger als zehn Minuten. Damit der Ofen immer fit bleibt, muss das Restaurant einmal im Jahr ein paar Tage schließen, dann werden die Brennkammern komplett erneuert.

Ich verstehe nicht, wie die Kellner und Köche so perfekt das Chaos im Griff haben. Nach außen sind die Gladiatoren des Tellerbalancewesens seelenruhig, aber wenn sie an der Theke für Sekunden an ihrer Zigarette ziehen, die sie dort in einem Aschenbecher immer griffbereit rauchend vorfinden, meint man die Nervosität zu spüren. Wahre Helden sind diese Kämpfer für eine gute und gesunde Versorgung der Menschen.

In der Speisekarte stehen nur Pizzen, die wenigen anderen Gerichte wechseln täglich und sind nur auf zwei grünen Schultafeln verzeichnet. Dafür ist in der Karte Platz für Grundlagen des Italienischen. Dort erfahren wir, dass Finocchio Fenchel heißt und Agnello Lamm. Bis zu drei Mal in der Woche gehe ich ins C. Einmal war ich auch drei Tage in Folge da. Die beste Zeit ist so gegen 18 Uhr, wenn die Abendsonne vorne in den Biergarten scheint. Der Chef kann übrigens auch sehr grantig werden. Als ich mir hinter seinem Tisch vorn am Eingang den aktuellen Spiegel auslieh, gab ich zu, das Heft aus Schusseligkeit schon einmal mit nach Hause genommen zu haben. So etwas könne er überhaupt nicht verstehen, meinte er dazu streng.

Jetzt hätte ich schon wieder Lust auf eine Incredibile oder auf eine spezielle Variante der Pizza Vegetariana: Statt Auberginen nehme ich gern Parmaschinken oder Salami zu Zucchini, Paprika und Spinat. Buon giorno. ANDREAS BECKER

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