Die Verlierer

Viele denken, „Bummelstudenten“ hätten eine Niederlage erlitten, weil Langzeitgebühren an den Unis jetzt erlaubt sind. In Wahrheit haben andere verloren: Sozial Schwache, ihre Berater, ihre Lobby

von CHRISTIAN FÜLLER

Vergangene Woche haben vier StudentInnen vor dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin eine herbe Niederlage einstecken müssen. Sie verloren ihre Klage gegen das Land Baden-Württemberg, das seit 1998 von ihnen Langzeitgebühren kassiert. Die eigentliche Niederlage mussten freilich nicht die vier klagenden Studierenden hinnehmen, die zwischen 19 und 40 Semester auf dem Buckel haben. Die wahren Verlierer sind Heide M., Beate Jäger, Hans-Dieter Rinkens und Jürgen Zöllner.

Ohne Berufsziel

Heide M. wollte Lehrerin werden. Aber kurz vor dem Examen hat ihr der damalige baden-württembergische Wissenschaftsminister Klaus von Trotha (CDU) mit seinen Langzeit-Studiengebühren das Berufsziel geraubt. Obwohl von Trotha sie gar nicht treffen wollte – denn Heide M. ist weder Bummelstudentin noch Karteileiche. Sie wollte ihr Studium beenden. Aber sie musste es abbrechen, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren konnte. Sie zählt zu jenen, die durch Studiengebühren von der Hochschule ferngehalten werden – weil sie wirtschaftlich zu schwach sind.

Heide M. hat keine reichen Eltern, die ihr das Studium bezahlen konnten. Sie bekam zunächst ein – spärliches – Bafög und verdiente sich den Rest durch einen Job dazu. Dann begann der deutsche akademische Teufelskreis: Das Studium verzögerte sich, das Bafög lief aus, sie musste mehr jobben – und dann kickten sie die Langzeitgebühren aus der Hochschule: So viel konnte sich Heide mit ihrem Job nicht mehr dazuverdienen. Heide M. ist ein typischer Fall: Zwei Drittel aller Studierenden müssen sich durch Jobs das Studium teilweise selbst verdienen; 18 Prozent finanzieren sich komplett selbst.

Ohne Beratungsziel

Beate Jörger hat ihr Beratungsziel verloren. Sie ist Gebührenberaterin an der Uni Freiburg. Sie macht das seit drei Jahren, seit die Baden-Württemberger begannen, Gebühren von 1.000 Mark je Semester von Studienüberziehern zu kassieren. Zu Beate Jörger kommt, wer studiert, aber nicht (mehr) weiß, wie er Studium und Lebensunterhalt bezahlen soll. Ihr Credo ist nicht karitativer Art; sie hat ein gesellschaftliches Ideal: denen das Studium zu ermöglichen, die es sich nicht leisten können.

Beate Jörger kennt die Fälle ziemlich genau, die Politiker und Journalisten der Einfachheit halber Langzeitstudenten nennen. Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel etwa ist richtig stolz darauf, dass sein Land mit den Langzeitstudiengebühren 18.000 Bummelstudenten vertrieben habe. Beate Jörger weiss, wer diese Leute wirklich sind. Ein Drittel bis die Hälfte, so berichtet sie, verschludern ihre Studienzeit nicht, sondern können wichtige Gründe für die Verzögerung anführen.

Da ist, ziemlich oft, die Sportstudentin, die sich verletzt hat – aber versäumte, sich in dieser Zeit beurlauben zu lassen. Jetzt ist die Semesterzahl schon ein wenig über die Regelstudienzeit hinausgewachsen. Der Weg zum Examen wird teuer, sehr teuer. Zu lange aber liegt die Verletzung zurück, um dafür noch einen Härtefallantrag stellen zu können, wie ihn das Gesetz vorsieht. Oder da ist der Student, in dessen Elternhaus sich plötzlich eine schwere Krankheit breit gemacht hat. Er sitzt wochenlang am Krankenbett seines Vaters. Er wartet, er hofft – aber er hat jetzt keinen Kopf für das Immatrikulationsbüro. Und da ist der Magisterstudent. Drei Fächer wollen parallel studiert sein. Aber nicht jeder Seminartyp wird jedes Semester angeboten, nicht alle Anfangszeiten sind aufeinander abgestimmt. Und die Uni ist kein Campus, sondern besteht aus Instituten, die quer über die Stadt verstreut liegen.

Beate Jörger hört täglich solche Lebens- und Studiengeschichten. Eines ist allen gemeinsam: Wenn sie Studis mit geringem Einkommen widerfahren, dann kann mit dem Studium schnell Schluss sein – zum Beispiel, wenn plötzlich eine Gebühr fällig wird. Was wird durch das Bezahlstudium bewirkt? „Das wird Klassenkampf“, sagt Beate Jörger. „Mit dem Ja des Bundesverwaltungsgerichts zu Studiengebühren haben jene gewonnen, die schon gegen die Bildungsexpansion der Sechzigerjahre waren, die die Hochschulen für ihresgleichen reservieren wollen. Die Verlierer sind die Steuerzahler aus den unteren Einkommensschichten. Sie werden um die Zukunftschancen ihrer Kinder betrogen.“

Ohne Aufgabe

Hans-Dieter Rinkens ist der Chef des Deutschen Studentenwerks, ein Lobbyist der Studenten. Sein Ziel ist es, möglichst vielen das Studium zu ermöglichen. Jetzt hat er seine Aufgabe verloren. Bei Studiengebühren ist Rinkens Job wechselhaft. Vergangenes Jahr, als die Gebührendebatte auf ihrem Höhepunkt war, kämpfte Rinkens einen vergeblichen Kampf. Die Befürworter des bezahlten Studiums unter den Kultusministern und den Medien wurden mehr und mehr. Die soziale Situation der Studis spielte kaum eine Rolle. Schließlich war die rot-grüne Bundesregierung am Ruder – und die hatte versprochen, das Bafög zu verbessern. Gutes Bafög, guter Studi-Verdienst lautete der Kurzschluss in der Öffentlichkeit. Also darf man über Studiengebühren reden.

Rinkens hielt dagegen. Mit komplizierten Argumenten, die ihm ein Ökonom in ein Gutachten geschrieben hatte. Fünf Journalisten langweilten sich bei einem Hintergrundgespräch. Von der Studie nahm so gut wie niemand Notiz. Vorvergangene Woche hatte Rinkens dann seinen großen Tag – dachte er. Vor 100 neugierigen Journalisten konnte er die neueste Sozialerhebung aus den Unis präsentieren. Die Studie zeigte: Am Ende der Kohl-Regierung ist ein jahrelanger Prozess der sozialen Ausgrenzung zu seinem Höhepunkt gekommen. Die Unis wird von Studenten aus gebildeten und gutbetuchten Elternhäusern bevölkert. Immer weniger Studis stammen aus Geringverdiener-Haushalten. Selbst zwischen 1997 und 2000 habe sich der Trend fortgesetzt.

Die Zahlen waren dramatisch. Der Präsident des Studentenwerks kam zu seinem wichtigsten Argument: In dieser sozialen Situation wären Studiengebühren eine Katastrophe, sagte er. 100 Journalisten nickten, die Bundesbildungsministerin, die neben ihm saß, lächelte. Eine Woche später sagte die Ministerin, sie bereite ein Gesetz vor, das Studiengebühren für Langzeitstudenten zulassen werde. Rinkens lächelt nicht mehr. „Wer stolz darauf ist, von Langzeitstudenten Millionen zu kassieren“, sagt er, „der muss sich zuerst fragen lassen, was an seinem Studiensystem falsch ist.“

Ohne politisches Ziel

Jürgen Zöllner ist der Bildungsminister in Rheinland-Pfalz. Und er koordiniert die SPD-Länder in Hochschulfragen. Kein leichter Job. Mit Niedersachsens Wissenschaftsminister Thomas Oppermann hat Zöllner einen ehrgeizigen und widerspenstigen Mann am Tisch. Was Zöllner und Oppermann eint, ist das Parteibuch. Was sie trennt: Oppermann findet Studiengebühren cool. Zöllner ist aus Prinzip gegen sie. Auch gegen Langzeitgebühren: „Denn die sind der Beginn von Studiengebühren für alle.“

Letztes Jahr hat Zöllner in Meiningen zwei Nächte lang mit Oppermann diskutiert. Und mit 14 weiteren Kultusministern. Heraus kam eine halbe Niederlage: Studiengebühren seien in Deutschland zwar nicht opportun, beschloss die KMK. Aber Langzeitgebühren kann man verlangen. Wenn man bestimmte Regeln beachtet. Über das Ergebnis ärgerte sich Zöllner insgeheim. Und auch Bildungsministerin Bulmahn fand es nicht gut. Sie wollte Gebühren ja eigentlich verbieten.

Als nun das Bundesverwaltungsgericht Langzeitgebühren für rechtens erklärte, hat Jürgen Zöllner nicht nur eine juristische Niederlage für seine Sache hinnehmen müssen. Seine Parteifreundin Bulmahn hat Zöllner mit ihrem Meinungsschwenk einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sein Studienkontenmodell, das zum Beispiel studierende Mütter zum selbstverständlichen Fall und nicht zur strafbefreiten Ausnahme macht, ist in weite Ferne gerückt. Wenn man ihn fragt, was er vom Sinneswandel der Bildungsministerin hält, antwortet er: „Ich kommentiere das nicht.“ Irgendwann sagt er dann: „Ich habe noch nie so gekämpft wie um den Kompromiss in Meiningen.“