: Ein Requiem für die Flüchtlinge
„No border, no nation, no deportation“ reimen die Demonstranten. Sie blockieren die Zufahrt zum Flughafen, der Rückstau reicht bis zur Autobahn
aus Frankfurt am Main HEIDE PLATEN
Jeder Handgriff sitzt, kein lautes Wort fällt, kein Kommando. Fast alle kennen sich wie eine große Familie. Das 4. antirassistische Grenzcamp in der Flughafen-Anrainergemeinde Kelsterbach am Mainufer wächst fast wie von Geisterhand. Trinkwasser, Ökowein, alternativer Apfelwein, Volxküche, Veranstaltungszelt, ein Dutzend Mietklos fügen sich zum Dorf zusammen, Klein-Bonum in Groß-Malum, bewohnt von rund 600 Campern aus allen Teilen der Republik. Ein heißer Ort, kein Baum, kaum ein Strauch auf der Wiese. Der italienische Eiswagen kommt spontan vorbei.
Die drei jungen Frauen, die ihre Namen nicht nennen wollen, haben schon an den drei vorausgegangenen Camps an der deutsch-polnischen Grenze und der zu Tschechien teilgenommen. Sie hören sich zu allererst die Berichte aus Genua an von denen, die beim Gipfeltreffen protestierten. Die sind zwar müde, aber eingestellt auf eine neue, anstrengende Woche. Und auf ein bisschen Urlaub vielleicht. Der Baggersee inmitten der südhessischen Industriebrache zwischen Fraport und Opelwerken Rüsselsheim ist nicht gerade das Mittelmeer, aber er liegt im Wald direkt gegenüber, auf der anderen Seite von Bundesstraße und Bahnschienen.
Urlaub ist das dann doch nicht, diese kilometerlangen Fußmärsche am Main entlang bis zur nächsten S-Bahn-Station, eine Haltestelle vor dem Flughafen, dann der Marathon durch die brennend heiße Frankfurter Innenstadt am Samstag, Schutz nur im spärlichen Schatten am Fuß der Nikolai-Kirche auf dem Platz vor dem Rathaus. Aber angemeldetes Programm ist Programm: Kundgebung eben. Der anschließende Marsch zur Kreditanstalt für Wiederaufbau und zum italienischen Konsulat ist nicht angemeldet und wird geduldet. Markenzeichen der Grenzcamps sind Spontanaktionen und die Bereitschaft zur Konfrontation. Die Markenzeichen der Main-Metropole, Liberalität und Toleranz, stehen auf dem Prüfstand. Die Polizei hält sich zurück. Hinter den Kulissen verhandeln Camper und die Fraport, Betreiber des Rhein-Main-Flughafens, ob im Flughafengebäude eine Kundgebung mit Kulturprogramm gestattet wird. Die Polizeiführung versucht sich in der Vermittlerrolle, die Fraport bleibt hart.
Das hat Folgen. Am Sonntag ab elf Uhr geht am Rhein-Main-Flughafen nichts mehr. Am Fernbahnhof der Bundesbahn werden die Reisenden mit schmusiger Lautsprecherstimme informiert: „Wegen einer Veranstaltung im Terminal 1“ sei der Flughafen vorübergehend nur mit gültigen Flugtickets betretbar. Die Durschsagen der Fraport nennen „betriebliche Gründe“. Die Passagiere sind verwirrt, die Polizisten an der eilig errichteten Eingangssperre schlecht instruiert: „Sie sehen doch, was hier los ist!“ Vier Stunden lang ist gar nichts zu sehen außer den Menschenschlangen vor den Eingängen. Werden Terroristen erwartet? Nein, das nun auch wieder nicht. Kein Schwarzer Block, sondern ein rosafarbener. Der sitzt kurzfristig mit 50 Leuten fest auf dem unterirdischen S-Bahnhof. Rosa Perücken, Chiffon, Cheerleader-Bommeln und endlich freier Abzug durch die Polizeisperre. Die Sympathien changieren: „So ein Aufstand für die paar Leute.“
Die rund 1.000 Globalisierungskritiker, Antirassisten, Anarchisten, die Automomen, Christen und Radikaldemokraten sind pünktlich und facettenreich, die Forderungen der Grenzgänger eine Gemengelage von naiver Weltverbesserung, politischer Utopie und Kapitalismuskritik. Kurz vor 15 Uhr packt die klassische Musikgruppe „Lebenslaute“ Geigen, Querflöten, Celli aus und intoniert auf der oberen Fahrstraße vor dem Abflugterminal Mozart, „Lacrimosa aus dem Requiem (KV 626)“. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass von Rhein-Main aus jährlich rund 10.000 Menschen abgeschoben werden, Fluggesellschaften und Bundesgrenzschutz Hand in Hand arbeiten. Die Namen derer, die dabei zu Tode kamen, benennt ein Transparent: Kola Bankole 1994 erstickt, der Sudanese Aamir Ageeb erdrückt, Naimah Hadjar brachte sich im Mai 2000 im Transit-Internierungslager um. Die Polizisten in ihren plastikverstärkten Kampfanzügen schwitzen, Polizeihunde kläffen zur Musikbegleitung.
„No border, no nation, no deportation!“ Der Frankfurter Flughafen dröhnt. Die, die nicht reindürfen, blockieren die Zufahrtsstraße außen, Rückstau bis zur Autobahn. „No border, no nation“. Bettina Urban, adrett, blauer Rock, weiße Bluse, Fraport-Outfit, ist von ihrem Arbeitgeber instruiert worden. Da sollen 2.000 Chaoten das Terminal stürmen und den Flugverkehr lahm legen wollen. Sie schaut die Demonstranten ungläubig an: „Die sehen eigentlich alle gar nicht gewaltbereit aus.“ „Da könnten Sie sich täuschen“, sagt ein junger Polizist in Kampfuniform und schwankt zwischen Flirt und Dienstauffassung. An den blockierten Eingängen mischen sich die Kleiderordnungen. Männliche Passagiere ziehen ihre Oberhemden aus, Demonstranten tragen Hawaihemden, Stewardessen-Uniformen und Einreiher mit Weste. T-Shirts und Rucksäcke sind ohnehin global ununterscheidbar. Bettina Urban macht ihren Job am Eingang B 4 der Ankunftsflugshalle des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens, weist gerade einen Vater zurück, der seine Söhne am Flieger verabschieden wollte. Der ist einsichtig: „Ich will ja hier keinen Stress machen.“ Nebenan agiert Herr Kumann. Oder so ähnlich. Der Namenszug auf seinem Security-Schildchen ist verwischt. Er ahnt die Unverhältnismäßigkeit der Mittel und möchte nicht gerne genannt werden. Herr Kumann praktiziert das Prinzip durchlässiger Grenzen und entscheidet nach menschlichem Ermessen, blickt den Leuten ins Gesicht, glaubt ihnen dann hin und wieder einfach und lässt sie passieren.
Es ist heiß. Ein junger Türke flucht über seine kurdischen Kollegen, denen es viel leichter gemacht werde, politische Gründe vorzuschützen, wenn sie in Deutschland doch eigentlich nur arbeiten und Geld verdienen wollten. Ein Mann aus Exjugoslawien tobt und schimpft die Demonstranten Rassisten, weil sie ihn hindern, seine 75-jährige Mutter abzuholen. „Ihr wollt, dass meine Mutter stirbt!“ Nein, wollen sie nicht und bieten ihm an, ihn zum Flughafenpersonal zu begleiten. In einer Ecke weinen drei türkische Frauen. Sie wollen wegen eines plötzlichen Todesfalles nach Istanbul, die Tickets wollten sie in der Halle kaufen. Und eben das geht gerade nicht. Eine kleine, rundliche Mallorca-Touristin ist völlig aus dem Häuschen. Sie hat ihre Reisegesellschaft mit dem Gruppenticket verloren, ist auf der Suche versehentlich aus der Flughafenhalle hinausgeraten und darf nun nicht wieder hinein. Herr Kumann begütigt, beschwichtigt und lässt Gnade walten.
Es ist bestimmt nicht seine Schuld, dass es einigen wenigen Demonstranten, schon aus Prinzip, gelingt, durch die Absperrungen zu kommen. Die finden andere Wege. Das alles, sagt eine Sprecherin des Grenzcamps, „hätte sich die Fraport ersparen können“, und nennt das Kundgebungsverbot „ein politisches Eigentor“, auch wegen der missgelaunten Fernsehsteams, die ebenfalls nicht reindürfen und allmählich trotzig werden. Ein Privatsender ersteht Tickets und sieht drinnen auch wieder nichts, denn die Musik spielt nun einmal draußen. „Feuer und Flamme für die Abschiebebehörde“, zwitschert ein Stimmchen durch das Megaphon. Und gegen 18 Uhr ist ohnehin klar, dass die Fraport nach tagelangem Gerangel nachgeben wird. Die Demonstranten dürfen in die inzwischen leer geräumte, mit Kofferkulis abgesperrte Halle C hinein und halten dort ihre Kundgebung noch einmal ab, die Redner reden, „Lebenslaute“ spielt zum dritten Mal an diesem Tag Mozart, Lacrimosa. Die Camper fordern von Fraport und Fluggesellschaften, Abschiebungen von Menschen zu verweigern, die mit Zwangsmaßnahmen deportiert werden sollen: „Das ist das Minimum.“ In der Menge sucht am Ende einer mit Schild noch immer vergeblich nach „Mrs. Knickel“, gestartet in Vancouver, Zielort „Langgöns-N.-Kleen“.
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