Die Sprache als Maß und Maßstab

Mit Trompeten und Chören aus dem Osten in den Westen und zurück: Einar Schleef war ein höchst und vielfach begabter Außenseiter, dem die verdiente Anerkennung erst spät zuteil wurde. Noch bleibt er als Autor zu entdecken

Mit nur drei Inszenierungen in Berlin und vor allem einer großen in Wien hat Einar Schleef auf die furioseste Art Theatergeschichte geschrieben und spät endlich die umstrittene Anerkennung gefunden, die er fraglos verdient hat. Die Uraufführung von Rolf Hochhuths mediokrem Dokumentarstück „Wessis in Weimar“ 1993 am Berliner Ensemble war der erste gewaltige Paukenschlag im Theater der Neunzigerjahre. Spätestens in der vierten Stunde der Aufführung hatte sein chorisches Körpertheater die Zuschauer mit geradezu hypnotischer Wirkung ergriffen, selbst die in Abwehr und Ablehnung befindlichen. Dem folgten „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, am selben Theater, und erst letztes Jahr am Deutschen Theater die Collage „Verratenes Volk“, mit Texten von Milton, Nietzsche und Edwin Erich Dwinger, eine ungerechterweise nur ungenügend gewürdigte Produktion von äußerster politischer Brisanz: Rosa Luxemburg und die verlorenen Illusionen, die sich ein deutsches Volk von seinen Führern macht. In Wien indes konnte Schleef 1998 mit der achtstündigen Uraufführung von Elfriede Jelineks „Sportstück“ seinen Erfolg wohl auch einmal genießen.

Schleefs Theaterform hat viele Wurzeln und zielt auf seine Art auf Reinigung im besten Sinn, auf eine grandiose Purifikation aller Mittel. Der Bühnenbildner Schleef bevorzugte strenge, meist monochrome Raumkompositionen, die Figuren hervorheben. Der Regisseur verstand sich auf die Texte vor allem als Sprechmaterial, arrangiert für ganze Gruppen, dirigiert als Chor, der jeden Versfuß mit dem Körper rhythmisiert. Als Autor war Schleef zugleich auch sein bester Bearbeiter von Texten, die Sprache der deutschen Klassik setzte er dabei als Maß und Maßstab. In „Wessis in Weimar“ etwa schoss Schiller hinein als pure Gewalt der Sprache – und nicht bloß weil es sich dort unter anderem auch um Weimar drehte.

Die chorisch-choreografische Technik mochte der junge Bühnenbildner, Meisterschüler bei Karl von Appen, in der Aufführung von Brechts „Coriolan“ entdeckt haben, für die Ruth Berghaus die Schlachtszenen als gruppensprechendes Kriegerballett inszeniert hatte – schon 1964, was ganz sicher als eine Form gilt, die Schleef später für sich weiterentwickelt hat.

Als Regisseur debütierte Schleef als Koproduzent von B. K. Tragelehn, „Frühlings Erwachen“ (1974) und „Fräulein Julie“ (1975) waren für das damalige Berliner Ensemble bahnbrechende Inszenierungen. Und so spannte die Rückkehr mit „Wessis“ und „Puntila“ einen großen Bogen der eigenen Formwerdung. Dazwischen lagen für den Theatermann und Schriftsteller schwierige Jahre: Ein höchst und vielfach begabter Außenseiter, der dies auch blieb, als er 1978 die DDR verließ, in die Bundesrepublik ging und ab Mitte der Achtzigerjahre in Frankfurt am Main seinen heute bekannten Theaterstil ausreifte.

Von der Verwurzelung im sachsen-anhaltischen Sangerhausen erzählen vor allem seine drei Stücke der Serie „Totentrompeten“ (1995–2000), skurrile Altweiberkomödien, bei denen der Autor der Diktatur unter den Rock guckt. Nach Sangerhausen führt auch Schleefs letztes, noch unveröffentlichtes Stück zurück, „Lange Nacht“, das von der Heimkehr zweier Brüder zu ihrer Mutter erzählt. Es hat etwas Erschreckendes, dass dieser Text nun gleichsam auch von einer anderen Heimkehr erzählen muss.

Als Schriftsteller wird Schleef vielleicht erst noch richtig entdeckt. Seine essayistisch-rhapsodische Prosa erregte vor allem mit „Faust Droge Parsifal“ Aufmerksamkeit, doch die Erschließung seines erzählerischen und, wie man weiß, sehr umfangreichen noch unveröffentlichten Tagebuchwerks wird in der Zukunft möglicherweise noch einen ganz anderen Autor hervortreten lassen. Aber auch dann wird man sich dieses ungewöhnlichen Theatereinzelgängers mit aller Heftigkeit erinnern, die seinen Arbeiten selbst eigen war und ist. THOMAS IRMER