: Niedrigste Instinkte
Antikommunismus hüben und Schuldzuweisungen drüben: Die von Diskussionsrunden begleitete Reihe „Blickpunkt Mauer – im Film“ im Kino Toni wird beiden Seiten der Propaganda gerecht
von NINO KETSCHAGMADSE
Angela muss immer die Wohnung verlassen, wenn der Vorgesetzte und Liebhaber ihrer Mutter aufkreuzt. Unter dem U-Bahn-Bogen Schönhauser findet sie Zuflucht bei halbstarken Jungs, die aus Langeweile diverse Mutproben absolvieren. Als Kohle aber eine Laterne zerschlägt, ist nicht nur Langeweile im Spiel. Sein Kumpel Karl-Heinz, der am Bahnhof Zoo DDR-Personalausweise verkauft, hat ihm dafür eine Westmark versprochen. Kohle geht gern ins Kino – in der Westzone – und so giert er nach der harten Währung. Angelas Freund Dieter schert sich um so was weniger, er hält sich aus allem raus – auch und gerade aus der FDJ. Als er nach seiner Republikflucht zur Spionage animiert wird, flieht er zurück – nach Ostberlin.
1957, zwei Jahre vor dem Mauerbau, hat der DDR-Nationalpreisträger Gerhard Klein „Berlin Ecke Schönhauser“ gedreht. Die modellhaften Rollen sind kennzeichnend für die noch lange anhaltenden und sich teils verschärfenden Typisierungen: Jugendliche sind in den Westsektoren durch Kriminalität gefährdet, Sicherheit finden sie nur im Osten der Stadt. Der Film, zu dem Wolfgang Kohlhaase das Buch schrieb, ist eines von vielen „Zeitzeugnissen“ die während der von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Filmgesprächswoche „Blickpunkt Mauer – im Film“ im Kino Toni am Weißensee gezeigt werden. Sämtliche Filmaufführungen werden von thematisch gegliederten Diskussionsrunden begleitet.
Wenngleich mit Jürgen Böttchers „Die Mauer“ und dem erst unlängst in den Kinos gestarteten „Wie Feuer und Flamme“ auch neutralere Nachwendeproduktionen auf dem Programm stehen – der Großteil der seit 1957 entstandenen Dokumentar- und Spielfilme aus beiden deutschen Staaten ist mit reichlich Propaganda durchsetzt.
Westdeutsche Filmproduktionen kamen während des Kalten Krieges selten ohne latenten Antikommunismus aus, die DDR mühte sich aus taktischen Gründen, der anderen Seite Versagen und Schuld anzulasten. Die Retrospektive wird beiden Sichtweisen gerecht, und selbst der berüchtigte Mann des „schwarzen Kanals“, Karl-Eduard von Schnitzler, kommt noch einmal zu Wort. Er schrieb den Text zu dem vermeintlichen Dokumentarfilm „Schaut auf diese Stadt“ (1962) von Karl Gass, der 84 Minuten lang den Mauerbau zu rechtfertigen sucht. Die Geschichte Westberlins, vom Kriegsende über Ernst Reuters legendären Aufruf an „die Völker der Welt“ bis zu den Tagen des Mauerbaus wird darin immer wieder mit dem Satz „Sie züchten die niedrigsten Instinkte“ kommentiert. Mit reichlich Zwischenschnitten aus der Nazizeit sollte Westdeutschland als hundertprozentiger Erbe des Dritten Reichs darstellt werden: „Einst hieß das Symbol des Niedergangs Chicago. Heute heißt es Westberlin.“ Junge DDR-Bürger würden im Westen mit billigen Horrorfilmen, Schmuddelcomics und Stripteasebars gefüttert, letztendlich sogar zum Totschlag animiert. Allein die Mauer böte die Möglichkeit, den „Störenfrieden“ Grenzen zu setzen.
Der Westen hingegen kämpfte seinerzeit verbittert gegen imaginäre Feinde im eigenen Land. So kostete die Ausstrahlung des Films „Besuch aus der Zone“ (1958) den verantwortlichen SDR-Intendanten und SPD-Mann Fritz Eberhard sein Amt. Der Vorwurf: „Ostinfiltration“. Dieser Film, der ebenfalls während der Retrospektive gezeigt wird, erzählt von zwei Inhabern eines „Textilbetriebs in der Sowjetzone“, Reichert und Kleinschmidt, die gemeinsam nach dem Krieg die Kunstfaser Relon entwickelt haben.
Der vielleicht bewegendste Film der Veranstaltungsreihe ist Sibylle Schönemanns „Verriegelte Zeit“. Ein Projekt, das erst nach der Grenzöffnung entstand und ihre eigene Geschichte nachzeichnet. 1984 wurde sie von der Stasi zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein Jahr später wurde sie wie viele andere politische Gefangene von Westdeutschland „freigekauft“, in den Bus gesetzt und „exportiert“: „Mein eigenes Land hatte mich ausgewiesen, ohne mir zu sagen, warum, oder mir auch nur die Chance zu geben, mich zu verabschieden.“ Für ihren Film suchte sie die Leute auf, die sie damals ins Gefängnis gebracht hatten.
Zusammen mit anderen Filmemachern, Journalisten, Historikern, Politikwissenschaftlern und Bürgerrechtlern – darunter Hartmut Jahn, Holger Kulick, Peter Hillebrand, Jürgen Böttcher, Connie Walter und Dietmar Schultke – wird Schönemann dieser Tage ihre eigenen Erinnerungen erneut durchleben.
Filmgesprächswoche „Blickpunkt Mauer – im Film“ bis 10. August im Kino Toni, Antonplatz am Weißensee, jeweils um 20 Uhr. Filmprogramm im Internet unter: www.kino-toni.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen