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Der wendige Angler

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Der Kreml erwartet heute hohen Besuch. Ein Sonderzug des nordkoreanischen Diktators Kim Il Jong durchquert seit Tagen Russlands Weiten von Osten her. Wladimir Putin und der Alleinherrscher von der Halbinsel treffen sich bereits zum zweiten Mal. Ein euroasiatisches Transportprojekt und das amerikanische Raketenabwehrsystem NMD stehen auf der offiziellen Tagesordnung. Kim schätzt den Kremlherrn, den sein Gesprächsangebot hat dem Dinosaurier des Kalten Krieges zu größerer Aufmerksamkeit verholfen.

Mit seiner Sympathie ist Kim nicht allein. Russlands Präsident nimmt alle für sich ein, ob Tony Blair, Chinas Jiang Zemin oder Gerhard Schröder. Ein tête-à-tête mit dem Kremlchef genügt, um seinem Charme zu erliegen. Selbst George Bush widerstand ihm nicht. Beim Gipfel in Lubljana im Juni lud er den Kremlherrn spontan auf seine Ranch ein, in Genua hatte der Amerikaner die Innenwelt des Russen schon durchleuchtet: „Ich habe seine Seele verstanden. Er ist ein ehrlicher Mensch, ich vertraue ihm.“

Erstaunlich, dem Kreml gelang, was vor kurzem noch unmöglich schien: Moskau stimmt Washington behutsam auf Zugeständnisse ein. Der NMD-Zeitplan könnte dadurch beträchtlich in Verzug geraten. Gleichwohl spenden Gegner wie Befürworter der amerikanischen Aufrüstungspläne dem Kremlchef lauten Beifall. Ein Paradox?

Wladimir Wladimirowitsch Putin – ein Genius in Sachen Konfliktmanagement? Oder hat er nur eine gute Nase für Befindlichkeiten seiner Umgebung? Eine Fähigkeit, die sich der Kremlchef in aller Bescheidenheit selbst bescheinigt hat: Schon als Agent des Geheimdienstes KGB habe er gelernt, auf Menschen zuzugehen und mit verschiedensten Typen zu arbeiten. Lauschen und Zuhörenkönnen gehören nun mal zum elementaren Rüstzeug der Profession.

Wer sollte dies besser wissen als das eigene Volk, das sich noch unter Präsident Boris Jelzin brüstete, im Umgang mit der Macht mehr auf der Hut zu sein als so manch vertrauensseliger Westler.

Von diesem „gesunden Misstrauen“ ist nicht mehr viel zu spüren. Ob der vom KGB drangsalierte Schriftsteller und Dissident Alexander Solschenizyn, die kleine Gemeinde der westlich orientierten Liberalen oder der ultranationale Wladimir Schirinowski, sie alle sehen in WWP den ersehnten Vollstrecker ihres Willens.

Zwei Seelen in der Brust

Sogar die Protagonisten des Putsches gegen Michail Gorbatschow im August 1991 hoben den Kremlchef – anlässlich des zehnjährigen Jubiläums – auf ihre Fahnen: „Die Verantwortlichen heute machen mit Russland, was wir damals mit der UdSSR vorhatten“, meinte Gorbatschows abtrünniger Premier Nikolai Pawlow. Deren Vorteil indes: Putin stelle sich heute keine gesellschaftliche Kraft in den Weg.

Die Einmütigkeit, mit der Russland seinem Oberhaupt huldigt, bedeutet freilich nicht, die heterogenen Interessenlagen hätten sich über Nacht in Wohlgefallen aufgelöst. Der Gleichklang ist nicht mit vorauseilendem Gehorsam gleichzusetzen.

Auf die Eigenschaften des Präsidenten, die ihn in der Rolle eines staatlichen Therapeuten besonders erfolgreich machen, wies Boris Nemzow, der Vorsitzende der liberalen Partei Union der Rechtskräfte hin: „Unser Präsident besitzt außerordentliche kommunikative Fähigkeiten. Er nimmt die Farbe seines Gegenübers an, je nachdem mit wem er spricht.“

Nemzow, einst ein Jelzin-Zögling wie Putin, vermutet unterdessen, dass der Kremlchef noch nicht wisse, wo er stünde und was er wolle. Der russische Regisseur Oleg Jefremow formulierte es dramatischer. Er ortete zwei Seelen in Putins Brust: Der Gründer des sowjetischen Geheimdienstes Felix Dzerschinskij und der Dissident Andrej Sacharow lägen ihm beide am Herzen.

Keine Diskussionen

Putin ist kein politischer Stratege. Ein Blick in die Biografie verrät: In der Präsidialkanzlei Jelzins und in der Petersburger Stadtverwaltung diente der Kremlchef als Befehlsempfänger. Politische Entwürfe wurden von ihm nicht erwartet. Sich in einer politischen Auseinandersetzung demokratisch zu behaupten – und sei es auch nur unter Gleichgesinnten –, hat er auch nie gelernt. Befehlsgewalt, Pragmatismus und Kaderkontrolle sind daher Kernelemente seines Führungsstils. Dass die Politik des Kreml im letzten Jahr auf einem ausgefeilten Entwicklungskonzept beruht hätte, würde dem Präsidenten mehr Verdienst zusprechen, als ihm tatsächlich gebührt.

Putin baut seine Politik ohne ein festes ideologisches Fundament. Seine Vision beschränkt sich auf einen starken Staat und die Wiedererlangung der Großmachtrolle. Der superzentralisierte Staat sei, bekannte er noch vor seiner Wahl in den Kreml vor 15 Monaten, in Russlands genetischem Code verankert. Etatist ist er allemal. Dem galten auch die ersten Maßnahmen: Zunächst demontierte er den föderalen Aufbau des Landes. Dem Föderationsrat, der russischen Länderkammer, sollen statt der mächtigen Gouverneure gewählte Beamte angehören. Sie sind leichter lenkbar als die selbstherrlichen Lokalfürsten. Überdies schuf er sieben Großregionen und setzte den Gebietschefs ebenso viele Supergouverneure vor die Tür, die die „Vertikale der Macht“, sprich die des Kreml, in die Regionen hineintreiben sollen.

Widerstand regte sich kaum. Jedenfalls artikulierte er sich nur zaghaft. Indes: Den Statthaltern des Kreml gelang es bei Gouverneurswahlen seither nicht, auch nur einen Wunschkandidaten erfolgreich durchzubringen. Das spricht für sich. Im Fernen Osten landete der Vertraute des Vertrauten der Zentrale gar weit abgeschlagen auf Platz drei. Doch auch, dass Moskau dieses Ergebnis auf sich beruhen ließ, spricht für sich . . .

Ordnung muss sein

Ob er autoritär oder demokratisch handelt, das sind keine Kriterien für den Kremlchef. Er entscheidet als Bürokrat, pragmatisch und nach dem Kriterium, ob es seiner Sache dient. Der Nutzen steht über Ideologien und Wertesystemen. Wo es dennoch um die Vermittlung von Wertmaßstäben geht, wie bei der Verabschiedung eines „patriotischen Erziehungsprogramms“, fällt nicht zuerst die antidemokratische Stoßrichtung ins Auge. Vielmehr frappiert das unerschütterte sowjetische Vertrauen in die Leistungskraft von Sozialingenieuren. Auch der Versuch, die russische Parteienlandschaft auf ein überschaubares System zurecht zu stutzen, entspringt nicht rein antidemokratischen Ressentiments. Eher stehen ordnungsgebende Allmachtfantasien einer noch sowjetisch geprägten Elite dahinter.

Diese Elite fühlt sich verunsichert, sobald sie auf selbstbestimmtes Handeln und selbstbewusste Einrichtungen der zivilen Gesellschaft stößt. Damit können der Präsident und seine Entourage nicht umgehen. Bei der Steuerreform hat man die Institutionen der Bürgergesellschaft glattweg übersehen. Menschenrechtsgruppen, Stiftungen, Verbraucherverbände und Öko-Initiativen werden genauso behandelt wie Wirtschaftsunternehmen. Ein Zufall? Eher beruht dies auf einem Amalgam aus Unkenntnis, Überheblichkeit und Ablehnung.

Ob Westler, Slawophile oder Eurasier, für alle hat Wladimir Putin ein offenes Ohr. Die Indifferenz gegenüber Ideologien mag das teilweise erklären. Wenn er im Westen dem Liberalismus das Wort redet und Gesprächspartnern letzte Zweifel an seiner Entschlossenheit nimmt, betrifft sein Credo den wirtschaftlichen Aspekt. Denn eines hat der Kremlherr im Unterschied zu Russlands Militärs begriffen: Ein starker Staat und Großmachtstatus lassen sich nur durch ökonomische Potenz im Rahmen einer Marktwirtschaft wiedererlangen. Demokratie und Freiheit sind eher unwichtige Nebenprodukte. Auf dieser Klaviatur spielt Putin nur, um im Konzert der G-8-Mächte mitzumischen. Initiativen, die den demokratischen Aufbau fördern, Verfassungsrecht und -wirklichkeit einander annähern würden, sind von diesem russischen Oberhaupt kaum zu erwarten.

Immerhin hat er es aber geschafft, ehrgeizige Reformprojekte, an denen Vorgänger Jelzin noch gescheitert ist, durch die Duma zu bringen. Nun warten Land-, Justiz- und Militärreform auf die Umsetzung. Daran wird sich zeigen, wie stark sein Wille ist und wie weit Arm und Atem reichen. Bisher hat die Bürokratie unliebsame Reformen ungestraft unterlaufen können. Dass es die Regierung in der Anlaufphase nicht bei Absichtserklärungen belassen will, davon zeugt ein Vorstoß in der Duma, der behördliche Genehmigungen für Unternehmen von 415 auf einige Dutzend reduzierte. Die Bürokratie schäumte. Es half nicht viel. Mit einem Viertel der Zuständigkeiten musste sie sich schließlich abfinden.

Aus dem Teufelskreis von Korruption und Vetternwirtschaft wird Russland indes auch unter Putin nicht ausbrechen. Der Präsident bevorzugt einen behutsamen „evolutionären Weg“. Beispiel: Nachdem Moskau den unliebsamen Gouverneur Nasdratenko im Fernen Osten des Amtes enthoben hatte, ernannte ihn der Kreml zum Chef der russischen Fischereibehörde. Ein einträglicher Posten. Selbst Innenminister Ruschailo, der „kompromittierendem Material“ über die Petersburger Wegbegleiter des Kremlchefs auf Konten der „Promstroibank“ nachspürte, überlebte. Zwar traf ihn der Zorn des Chefs. Schließlich hatte er gegen die Spielregeln verstoßen. Die Strafe fiel indes milde aus: Ruschailo wechselte vom Innenministerium auf den Chefsessel des Sicherheitsrats. Fazit: Niemand wird aus den Zirkeln der Macht einfach verstoßen. Sonst könnte die sowjetisch-russische Nomenklatura ihren Machterhalt nicht sichern.

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